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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Grodstein
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genau in der Mitte.
    Ich habe das niemandem erzählt, nicht einmal ihr. Aber damals, als ich Roseanne Craig behandelte, sagte ich mal zu Joe, ich habe eine Patientin, die ein bisschen depressiv sei, und nannte ihm, jegliche medizinische Ethik vergessend, sogar ihren Namen. Joe war schließlich mein bester Freund. Wir sprachen über alles. Joe sagte: Du solltest neben der Depression auch nach ein paar anderen Dingen schauen. Nicht davon ausgehen, dass sie nur depressiv ist. Ich hörte nicht auf ihn. Ich hatte anderes im Kopf. Und jetzt, wo das Verfahren wegen des Kunstfehlers läuft, braucht Joe den Anwälten ihrer Familie boß zu sagen: Ich hab’s ihm gesagt. Ich hab ihm gesagt, wonach er schauen soll. Wenn er auf mich gehört hätte, wäre alles gut geworden. Dann befindet die Richterin mich für schuldig, und ich muss zahlen, und zwar gewaltig. Muss zahlen für alles Unrecht, das ich den Craigs angetan habe, aber auch, und das ist vielleicht noch wichtiger, Joe.
    »Was ist los?«, sagt Elaine. »Vielleicht ruft er dich als Freund an?« Ihr Hang zum Optimismus erstaunt mich immer noch.
    »Das bezweifle ich.«
    »Iris wollte jedenfalls, dass ich dir Bescheid sage«, sagte sie. »Vielleicht änderst du ja deine Meinung und rufst ihn doch noch an.« Elaines Stimme ist sanft bestimmt, aber sie sieht unsicher aus. In zwei Tagen hat sie den Termin bei ihrem Anwalt. Was wird Alec denken, wenn ich kein Heim mehr habe, keine Frau, keinen Job? Wird er mich dann bedauern?
    »Möchtest du reinkommen?«, frage ich noch einmal.
    Sie schüttelt den Kopf, schiebt sich eine verirrte blonde Strähne hinters Ohr und geht die Treppe hinunter. Ich passe auf, dass sie drüben sicher ankommt, und setze mich dann auf die Treppe, denke noch einmal über die Fassadenerneuerung nach und trinke meinen Tee.

KAPITEL SECHS
    M ein Vater starb an einem bewölkten, aber windstillen Montag, am Valentinstag 2005. Sein Tod kam überraschender als der von Joes Vater und war weniger melodramatisch – genau so, wie ich irgendwann in grauer Zukunft gehen möchte. Er hatte meine Mutter zu einem romantischen »Zwei-zum-Preis-von-einem«-Lobsteressen ins Geno am Hudson ausgeführt (zum Teufel mit der Kaschrut an einem solchen Feiertag) und sich, als sie wieder zu Hause waren, in seinen alten rissigen Sessel in der Diele gesetzt. Als meine Mutter mit dem rituellen Glas Ginger Ale kam, das sie ihm vor der Dr. Phil -Serie immer brachte, war er kalt und bleich, die Nase zeigte nach oben, so als schlafe er. Wäre er nicht so kalt gewesen, sagte sie, hätte sie es vielleicht gar nicht gleich gemerkt. Herzinfarkt.
    Mein Vater wurde einundachtzig Jahre alt und war so gesund, wie man es mit einundachtzig nur sein konnte, ein bedächtiger Mann, ein Gentleman. Er hatte mir beigebracht, was richtig und was falsch ist, er hatte das Puzzle Welt für mich zu einem einfachen Bild zusammengesetzt: Arbeite hart, sei vorsichtig, du sollst es besser haben als dein Vater. Als der Kalte Krieg vorbei war und die Sowjetunion zusammenbrach, feierte mein Vater die Tatsache, dass er recht gehabt hatte, mit einem kleinen Wodka, meines Wissens die einzige ironische Geste in seinem Leben. Meine Mutter rief mich auf dem Handy an und sagte: »Ich glaube, irgendetwas stimmt nicht mit deinem Vater«, nicht, weil sie nicht genau gewusst hätte, was mit ihm nicht stimmte, sondern weil sie mich nicht beunruhigenwollte. Ich fuhr langsamer nach Yonkers, als ich es hätte tun sollen. Phil war schon da, als ich eintraf.
    »Er ist vor vierzig Minuten gestorben«, sagte mein Bruder an der Tür, er war gefasst, das Gesicht vielleicht etwas blasser als sonst. Er trug eine Breitkordhose, ein Hemd mit Manschettenknöpfen, einen hellblauen Kaschmirpullover – die teure, aber geschmacklose Kleidung des Teilhabers einer Anwaltskanzlei in Manhattan. Neben seinem korrekten elfenbeinweißen Kragen war etwas Weißliches, ein Spuckefaden. Phil hatte eine Mund-zu-Mund-Beatmung bei meinem Vater versucht. »Mom ist mit ihm im Montefiore.«
    »Bitte?«
    »Ein Herzinfarkt«, sagte Phil. »Der Notarztwagen hat ihn ins Montefiore gebracht.«
    »Und du glaubst, er ist tot?«, fragte ich, denn es sah meinem Bruder total ähnlich, zu verkünden, unser Vater sei tot, und es sah mir total ähnlich, mich mit ihm über etwas zu streiten, was eine unstrittige Tatsache war. Schließlich war ich ein Jahr älter und Arzt, ich war derjenige, der wissen musste, ob mein Vater tot war. Nicht Phil.
    »Sie haben sofort versucht, ihn

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