Die Freundin meines Sohnes
wiederzubeleben«, sagte mein Bruder, »sie hatten Defibrillatoren, aber es war wohl zu spät. Ich hab auf dich gewartet.« Er sah mich an. »Warum hat das so lange gedauert? War so viel Verkehr?«
»Was soll das heißen, er ist tot?« Ich war der Arzt, aber ich verstand in diesem Moment so wenig wie ein Kind. Mein Vater war nicht tot. In den vergangenen fünf Jahren hatten wir geschafft, sein LDL auf 130 zu senken, sein HDL zu erhöhen und seine Triglyceride stabil zu halten. Kein Jahr war es her, dass er den Check im CT hatte, der einen frappierenden Kalziummangel in den Arterien und das Fehlen von C-reaktivem Protein ergab. Er nahm Sectral, einen Betablocker, und, niedrig dosiert, Lasix, ein Diuretikum, so dass wir seinenBlutdruck auf 140 /90 senken konnten – alles in allem nicht so schlecht. Und ich blieb in Sachen Diät bei ihm am Ball. Hatte ihn dazu gebracht, auf seine Gelegenheitszigarre zu verzichten. Und deshalb war er noch am Leben.
»Da drüben«, sagte mein Bruder und zeigte auf den abgewetzten Ledersessel und den Fernseher, der mit abgeschaltetem Ton immer noch lief. Phil richtete sich zu seinen vollen einssiebenundachtzig auf. »Fahren wir ins Krankenhaus.«
»Ich …«
»Er ist tot, Pete«, sagte Phil. »Die Rettungssanitäter konnten ihn nicht wiederbeleben. Also machen wir, dass wir hier rauskommen, okay? Ich möchte Mom nicht alleinlassen.« Er sah auf seinen Pullover hinab, erblickte den Spuckefaden, wischte angewidert mit dem Ärmel darüber.
Mein Handy läutete, es war Elaine. Ich erzählte ihr, was geschehen war, und sie schrie auf vor Verblüffung oder Schreck und brach in Tränen aus. Sie sagte, sie würde auch ins Montefiore kommen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich mir nicht vorstellen, es dorthin zu schaffen. Ich setzte mich in den Sessel meines Vaters.
»Willst du nicht fahren?«
»Lass mir einen Moment Zeit, Phil, okay?«
Er schüttelte den Kopf, schritt in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab und atmete wie ein Tier kräftig durch die Nase aus. Ich tat, als merkte ich es nicht. Ich spürte das glatte Leder des Sessels unter den Armen und bildete mir ein, ich spürte noch die Körperwärme meines Vaters, als er die Federn des Sessels niedergedrückt hatte.
»Hast du im Stau gestanden, Pete?«
»Phil, du gibst doch nicht mir die Schuld daran?«
»Machen wir es nicht schlimmer, als es schon ist«, sagte er. Immer noch rannte er durch das Zimmer. In dem tief dunkelrotenTeppich war bereits eine Spur zu sehen. »Fahren wir zu Mom.«
Er gab mir die Schuld daran. Ich verstand schon, ich gab mir ja selbst die Schuld. Ich schloss die Augen. Konnte mir nicht vorstellen, es in das Krankenhaus zu schaffen. Konnte mir nicht vorstellen, diesen Sessel zu verlassen, diesen Teppich, diese Wohnung, in der ich aufgewachsen war. Sie roch nach hunderttausend Mahlzeiten, Rostbraten, Sabbatkerzen, nach meiner Kindheit, nach Defibrillatoren, Sanitätern.
»Wir müssen los, Pete«, sagte Phil. »Oder ich fahr ohne dich, wenn du nicht kannst.«
Im Krankenhaus nahm ich meine Mutter in den Arm und betrachtete den Körper meines Vaters, streichelte ihm die Hand und sah das Grau in seiner Haut und seinen Augen, aber erst nachdem ich mit den Ärzten in der Notaufnahme gesprochen hatte – Plaqueruptur, Arrhythmie, das konnte niemand verhindern, so starben jedes Jahr eine halbe Million Menschen in den Vereinigten Staaten –, erst nachdem ich mir verziehen hatte, glaubte ich wirklich, dass mein Vater gestorben war.
»Du hättest nichts machen können, Pete«, sagte meine Mutter auf der Rückfahrt nach Hause. Sie hatte recht. Aber trotzdem: noch ein Toter auf meinem Konto.
Und so brachen wir ein Jahr später, im Februar 2006, es war noch vor neun, schweigend, Alec auf dem Rücksitz war noch ganz schläfrig, von Round Hill aus auf, um den Grabstein zu enthüllen. Elaine fuhr. Dizinoffs werden auf dem Beth-David-Friedhof begraben, der an der Grenze von Queens und dem County Nassau liegt, unweit der Pferderennbahn Belmont Park. Meine vier Großeltern, Tante Iz und Onkel Nate, Louise, die Cousine meiner Mutter, die an Diphtherie gestorben war und deren Fall uns Kinder stets gemahnte, denMantel zuzuknöpfen – sie alle liegen dort, nach Osten ausgerichtet, gen Jerusalem. Wir hatten uns eine sogenannte Dauergrabpflege geleistet. Wir waren als Erste da und staksten zwischen den toten Familien anderer Leute vorwärts. Eine Gruppe von Chassiden umstand laut wehklagend ein offenes Grab.
»Alles in
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