Die Freundin meines Sohnes
meine Mutter groß, steif und unerbittlich in der fleckigen hüftlangen dicken Jacke, die sie seit dem Tod meines Vaters ein Dreivierteljahr lang ununterbrochen, ohne sich dafür zu schämen, angehabt hatte. »Wofür soll ich mich denn schick anziehen?«, fragte sie, die Antwort darauf interessierte sie nicht.
Bald darauf erschienen Phils Frau und seine Töchter am Grab, gefolgt von einer kleinen Gruppe noch lebender Vettern und Freunde: Frauen mit schütterem Haar, die an Rollatorengingen, gebückte und taube Männer. Sie griffen nach meiner Mutter und wiegten sich sacht, umarmten mich, umarmten Phil. Dann kamen die Sterns mit, wie vorauszusehen war, Laura. Seit unserem Nachmittag im MoMA war sie immer wieder bei uns aufgetaucht, war zwar nur selten hereingekommen, hatte aber stundenlang mit Alec auf dem Treppenabsatz vor dem Haus gesessen und mit ihm über wer weiß was geredet. Derweil beobachtete ich sie im Schein der Lampen, die Elaine und ich vor Jahren auf der Reise nach Bedford gefunden hatten. Elaine brachte mir Kaffee, während ich steif auf der Couch am Fenster saß und meine Observation ungeschickt damit kaschierte, dass ich die ganze Zeit ein Heft der JAMA in der Hand hielt. Sie fassten sich nicht an, Laura und Alec – das hätte ich gewusst, denn ich passte auf wie ein Luchs –, und es gab manchmal auch lange Phasen, in denen sie schwiegen. Laura ging stets vor Mitternacht. Ich dachte, ich könnte das Ganze langsam etwas entspannter sehen. Manchmal schaffte ich es sogar, einen Artikel zu lesen. Manchmal sogar bis zu Ende.
»Onkel Pete.« Lindsey, Phils jüngere Tochter, die ich von allen am liebsten hatte, kam zu mir und umarmte mich. Lindsey hatte den knochigen hohen Wuchs ihres Vaters und die dramatischen französischen Züge ihrer Mutter geerbt: eine scharfgeschnittene Nase und schwarzblaues Haar, das sie, wäre sie in Paris aufgewachsen, vielleicht nach hinten gebunden hätte – in Scarsdale war es der Grund dafür, dass sie ohne männliche Begleitung zum Abschlussball gehen musste. Lindsey war neunzehn und studierte modernen Tanz an der New York University, und Phil äußerte grausam offen seine Sorge, ob sie jemals einen Mann finden würde.
»Ein ganzes Jahr ohne Großvater«, sagte sie.
»Stimmt, Linds. Kann man sich kaum vorstellen.« Mein Vater war von seinen beiden Enkeltöchtern verzaubert gewesen,besonders von Lindsey. Er spürte wohl, dass sie den größeren Teil seiner Bewunderung benötigte. Vor ein paar Jahren lud er Lindsey einmal zum Essen in den Rainbow Room ein, das schickste Lokal, das er sich denken konnte. An dem Abend hüpfte der Rest ihrer Klasse auf einem Ball herum. Sie hörten sich Michael Feinstein an, der Schlagerklassiker sang, mein Vater spendierte Lindsey so viele Champagnercocktails für fünfzehn Dollar das Stück, wie sie wollte, und wirbelte dann mit ihr eine Runde übers Parkett. So ein Mann war er.
»Ich möchte ihn dauernd anrufen«, sagte Lindsey. »Ich denke immer, er könnte uns doch besuchen kommen, wir könnten in den Second Avenue Deli gehen oder so, wir könnten ins Kino gehen. Und dann fällt mir wieder ein, dass er ja tot ist.«
»Das hätte ihm gefallen«, sagte ich. »Er war ein ganz großer Fan von dir.«
»Er war auch ein ganz großer Fan von dir«, sagte sie. »Wirklich, war er.«
»Na ja«, sagte ich, und wir suchten nach etwas anderem, worüber wir sprechen konnten, aber natürlich gab es nichts, und schon bald war auch sie in der kleinen Gruppe aus Tanten, Vettern und Freunden der Familie verschwunden, die Trost suchten, indem sie sie in die Wange zwickten. Neben RIVKA DIZINOFF (1915–1989) standen Elaine und die Sterns im Gespräch, und Laura war an den Friedhofseingang spaziert, um sich eine Zigarette anzuzünden. In der Ferne sah ich Phils kleinen Rabbi sich den Weg durch die Grabsteine bahnen, ich spürte, wie ich ein paar Schritte zurücktrat, um etwas Abstand von allem zu gewinnen. Im letzten Jahr hatte ich mich meinem Vater Dutzende Male nahe gefühlt: als ich durchs Fenster einen Zug der Amtrak sah, als ich mir vorstellte, wie saftig der Hamburger sein würde, in den ich gleich biss, während der lausigen zweiten Halbzeit eines Spiels derNets, während einer Fahrt die Saw Mill entlang – in dem Moment aber war er für mich nirgends. Noch einen Schritt rückwärts, und ich stieß mit meinem Sohn zusammen, der sich ebenfalls etwas entfernt hatte.
»Ich hab gerade an etwas gedacht«, sagte Alec in zögerlichem Ton. Er trat immer
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