Die Freundin meines Sohnes
gegangen.
Doch mir kam eine Lektion in den Sinn, die ich im Anatomie-Praktikum gelernt hatte: Hautfarbe oder Geschlecht der Probe sind irrelevant, Blut und Eingeweide sind alle gleich. Bücher, Lieder, Gebete – sie waren alle gleich. Die Kantorin hatte eine heisere Singstimme, die Rabbinerin las den hebräischen Text mit autoritärem Schwung, und binnen kurzem verloren Elaine und ich uns in den Liedtexten, die wir als Heranwachsende gesungen hatten.
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.
Und gepriesen sei sein herrliches Königreich ewiglich.
Haben wir das wirklich einmal geglaubt? Wird wohl so gewesen sein. Womöglich habe ich sogar nie aufgehört zu glauben, sondern bloß aufgehört, daran zu denken.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Ich sah auf Elaines Lippen, als sie das Gebet nachsprach.
»Glauben wir denn an all das?«, fragte ich sie hinterher.
»Natürlich«, sagte sie, und ich war froh.
Die Torah-Lesung handelte von den Regeln für das Betreten des Landes Israel, und die hübsche Brünette neben mir wurde zur Lesung aufgerufen. Sie wurde als Überlebende eines Autounfalls vorgestellt, und erst als sie sich erhob, fiel mir die lange rosa Narbe auf, die sich von ihrem Hals bis zu einer von ihrem Leinenkleid bedeckten Stelle zog. Ich schlug die Beine übereinander. Die Frau las ein lausiges Hebräisch, und die Rabbinerin beugte sich zu ihr herüber und flüsterte ihr die Wörter ins Ohr. Sie kicherte verlegen, fing noch einmal von vorn an. Nestelte geistesabwesend an ihrer Narbe. Ich schlug die Beine andersherum übereinander und blickte auf meinen Schoß.
Nach der Torah-Lesung sagte die Rabbinerin, alle, die kürzlich eine Prüfung durchgemacht hatten, sollten doch aufstehen und sich vorstellen.
»Steh auf«, sagte ich zu Elaine.
»Das möchte ich nicht«, sagte sie. Sie nahm meine Hand. »Ich bin mit dir hier. Das genügt.«
»Komm schon«, sagte ich. »Du hast doch eine Prüfung durchgemacht. Eine schwere.«
»Vielleicht nächste Woche«, sagte Elaine. Ich hatte noch nicht daran gedacht, dass wir das womöglich wiederholten.
Die Frau mit der Narbe hatte sich wieder neben mich auf den Stuhl gezwängt. »Gut gemacht«, sagte ich zu ihr.
»Ich war schrecklich«, sagte sie. »Aber ich habe der Synagoge nach dem Unfall eine hübsche Summe gespendet, da müssen sie mich lesen lassen. Irgendwann kriege ich es mal richtig hin.« Es freute mich zu hören, dass alle diese Tempel einer wie der andere genau gleich waren. Auf der Heimfahrt im Auto hörten wir im Radio einem Briten zu, der eine langweilige Kurzgeschichte vorlas, und taten, als fänden wir das Erlebnis Kurzgeschichte bedeutsam. »Vielleicht sollten wir Alec das nächste Mal mitnehmen«, sagte Elaine nachdenklich.
»Alec würde lieber Toiletten putzen, als einen Gottesdienst besuchen.«
»Woher weißt du das?«
»Also bitte«, sagte ich und sah auf die Straße. »Ich krieg den Jungen doch nicht mal dazu, sich am College zu bewerben.«
»Was hat eine Bewerbung am College mit dem Besuch des Gottesdienstes zu tun?«
»So was machen nur brave Kinder. Und Alec ist in letzter Zeit nicht sonderlich brav gewesen.«
»Ich frag ihn.«
Als wir zu Hause ankamen, war allerdings klar, dass Alec nicht zu Diskussionen über Religion aufgelegt war. »Wo wart ihr denn?«, fragte er argwöhnisch. »Ich wollte die Autoschlüssel.«
»Du kannst das Auto nicht nehmen, wenn wir nicht da sind.«
Alec hatte die Füße auf dem Küchentisch und stank fürchterlich nach Schweiß und der strengen Listerine-Mundspülung.
»Alec, nimm die Füße vom Tisch«, sagte Elaine. »Ich fahr später eine Runde mit dir, wenn du magst.«
»Ich wollte keine Runde mit dir fahren«, erwiderte er verächtlich. »Ich habe das Auto gebraucht.«
»Wozu denn?«
»Ach, nichts«, sagte er. »Vergiss es.«
»Na dann. Hast du was gefrühstückt?«
»Keinen Hunger«, sagte er und bewegte die Füße kein Stück. »Wo wart ihr eigentlich?«
»Nirgends«, sagte ich, aber ich fand es schon nett, dass er sich Gedanken gemacht hatte.
Er seufzte. Er hatte sich die Ohren gepierct und trug in beiden seit neuestem hässliche kleine Holzstecker von der Art, wie man sie im National Geographic sah – Buschmänner rammten sich so etwas in die Unterlippe. Er hatte sich auch eine Augenbraue mit einem schmalen Goldring gepierct.
»Warst du gestern Abend bei
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