Die Friesenrose
bald aufhört, kannst du gleich nach unserer Ankunft in deine dunkle Weinhöhle zurückkehren“, drohte sie, woraufhin Bonné in der Hoffnung auf eine gute Tasse Tee am Ende der Reise tatsächlich über einen längeren Zeitraum hinweg schwieg.
Und so fuhren sie nun schon seit Stunden auf Wegen, die sich nur durch häufige Benutzung gebildet hatten, durch Klei und Moor. Auch an diesem grauen und öden Herbsttag gab es in der Natur viel Schönes zu entdecken. Man musste nur ein bisschen genauer hinsehen und etwas länger danach suchen. Doch nicht einmal die reizvolle Landschaft und der Blick über die endlosen Weiten konnten Bonné trösten, nachdem die Reisegefährten nach wie vor ordentlich durchgeschüttelt wurden. Einmal hatte der Kutscher die Pferde sogar querfeldein gelenkt und den Wagen dadurch fast zum Umstürzen gebracht.
„Morgen werden wir jeden Knochen einzeln im Leib spüren“, fing Bonné wieder an zu klagen.
„Das kommt nur davon, dass du deine Knochen sonst nie bewegst. Nun spürst du wenigstens, dass sie noch vorhanden sind“, konterte Tjalda.
„Es ist überhaupt gefährlich, mit der Kutsche zu reisen“, überging der Weinhändler ihre Worte und nickte bekräftigend zu seinen eigenen. Er schien sich genötigt zu fühlen, seinen Ausführungen noch etwas hinzuzufügen, und holte tief Luft. „Und um euch zu zeigen, wie gefährlich es sein kann, werde ich euch jetzt eine Geschichte erzählen, die sich vor 50 Jahren in Eichstädt zugetragen hat. Wenn diese verdammte Kutsche sich vor einer Stunde überschlagen hätte, dann wäre es uns vielleicht genauso ergangen wie dem armen Fräulein, das zur Winterzeit als einziger Fahrgast in Eichstädt den Postwagen bestiegen hatte. Auf sumpfiger Wegstrecke überschlug sich die Kutsche mitsamt seiner Insassin. Der Postillion zog die Ärmste aus dem Seitenfenster und wartete auf Hilfe. Kurze Zeit später kam ein Metzgerschlitten vorbei. Der Schlitten war beladen mit geknebelten Kälbern, die dem Erfrieren nahe schienen. Unser Postillion nun war nicht dumm. Er bat den Metzger, das eingewickelte Fräulein zu seinen Kälbern auf das Gefährt zu laden und sie zu Rothenstein im Wirtshaus abzuliefern. Und ob ihr es glaubt oder nicht: So geschah es.“
„Na, wenn uns solches passiert wäre, hätte der Postillion aber Mühe gehabt, dich aus dem Seitenfenster herauszuziehen“, spöttelte Tjalda trocken, wobei ihr Blick vielsagend an seiner rundlichen Gestalt hängen blieb.
„Du bist einfach köstlich, Bonné.“ Inken maß den Weinhändler mit einem liebevollen Blick. „Weißt du vielleichtnoch mehr gute Geschichten zu erzählen, damit uns die Reise nicht so lang wird?“
Während Bonné sich nachdenklich über das Kinn strich, stieß Tjalda ihn mit dem Fuß an. „Bonné, du kannst Inken und Sumi doch mit einigen Anekdoten aus der Zeit, als du noch mit deinen Weinen durchs Land gezogen bist, aufheitern.“
„Oder aber“ – Inken beugte sich zu dem Weinhändler vor – „du erzählst uns etwas aus deinen Kindertagen. Den kleinen Bonné kann ich mir irgendwie überhaupt nicht vorstellen.“
„Du meinst, weil ich jetzt so beleibt neben dir sitze?“ Bonné maß sie mit einem Schmunzeln.
Inkens Wangen röteten sich vor Verlegenheit. „Nein. Ich meine, weil du so alleine lebst, ohne Familie. Bei den meisten Menschen kann man sich mit einem Blick in die Gesichter ihrer Söhne oder Töchter meist ganz gut vorstellen, wie sie selbst einmal in ihrer Jugend ausgesehen haben mögen. Doch bei dir …“ Inken machte eine kleine Pause. „Ich würde zu gerne wissen, ob du überhaupt in Emden aufgewachsen und wie du zu deiner Weinhandlung gekommen bist.“
So viel Aufmerksamkeit schien Bonné zu schmeicheln. „Ja, nun.“ Er überlegte kurz. „Wenn ihr unbedingt wollt, dann kann ich natürlich so ein bisschen was aus meinem Leben berichten.“ Er richtete sich kerzengerade auf. „Ihr seht hier vor euch den Sohn eines Gelehrten von vermögender Herkunft. Leider ließ sich mein Vater von der Liebe leiten und starb deshalb als armer Mann.“
„Sohn eines Gelehrten – nun plustere dich mal nicht so auf“, unterbrach Tjalda ihn. „Gelehrter wollte dein Vater wohl werden, aber so weit ist es nie gekommen!“
Bonné warf Tjalda einen missbilligenden Blick zu und fuhr, ihren Einwurf ignorierend, fort. „Also, meines VatersFamilie besaß in Köln eine gut gehende Schneiderei, in die einzutreten er kein Interesse hatte. Vater liebte Bücher, und weil er sich
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