Die Friesenrose
Das Gift machte sie abhängig von den Opiumhändlern, machte sie zu deren Sklavin, und als dann eines Tages noch Cirks Vater starb, verlor Anna jeglichen Lebenswillen. Nun, daihre Träume nie mehr Wirklichkeit werden konnten, gab sie sich völlig auf. In ihrem Kopf gab es nur noch den Gedanken an das Opium. Damit waren Tür und Tor für einen noch tieferen Fall geöffnet, einen Fall, der Anna ihrer Würde beraubte. Sie brauchte immer größere Mengen Gift, und schon bald tat sie alles dafür, um es zu bekommen. Sie nähte das Gift nicht mehr nur in Stoffe ein, sondern verkaufte auch ihren Körper.“
Tjalda schwieg, und Inken schloss die Augen. „Was geschah dann?“
„Als Anna schließlich so schwach war, dass sie ihre Arbeit nicht mehr erledigen konnte, musste Cirk für sie einspringen. Nicht das Verbergen des Rauschgifts wurde seine Aufgabe, sondern das Verteilen.“
„Cirk musste für sie einspringen“, rief Inken entsetzt. „Du willst damit sagen, dass er diesen Bastarden, die das Opium verkauften, dabei helfen musste?“
Tjalda nickte. „Ja. Sonst hätte es kein Opium mehr für seine Mutter gegeben. Zu diesem Zeitpunkt war Anna bereits zu hinfällig, um irgendeiner anderen Tätigkeit nachgehen zu können. Cirk hasste das, was er tat, und schwor sich damals, niemals in seinem Leben wieder in eine Abhängigkeit zu geraten – welcher Art sie auch immer sein möge. Schnell stellte sich heraus, dass Cirk ein guter Botengänger war. Niemals ließ er sich erwischen, und so bedienten sich die Opiumhändler seiner gerne. Cirk durfte sich nicht erwischen lassen, das war ihm klar, denn sonst wäre es zu Ende gewesen mit seiner Mutter. Sie hatte außer ihm ja niemanden. Dadurch kam er in den Ruf, sieben Leben zu haben.“
„Sieben Leben“, kam es leise von Inkens Lippen. „Welche Todesfurcht muss Cirk als Junge ausgestanden haben. Was für eine Kindheit!“ Und sie dachte an die Nacht in derMoorkirche und daran, was Cirk ihr über das Zusammentreffen mit seinem Vater erzählt hatte. Was für elende Jahre! Und niemand, dem er vertrauen konnte, der ihn liebte.
„Cirk musste früh erwachsen werden“, fasste Tjalda ihre Überlegungen zusammen. „Und immer lag die Verantwortung für seine Mutter auf seinen Schultern. So lange, bis das Opium sie eines Tages zur Gänze vernichtete und sie ihre letzten Jahre in einer Scheinwelt verbrachte. Nach einer hohen Dosis Opium setzte ihr Atem eines Tages schließlich einfach aus.“
Tjalda schüttelte den Kopf. „Und weißt du, was Cirk zu mir sagte?“
Inken blickte sie fragend an.
„Er sagte: ,Und dann war sie endlich frei und ich war es auch.‘ Noch am selben Tag verließ er Hamburg. Niemals wieder wollte er einen Fuß in diese Stadt setzen, die so viel Elend über seine Mutter gebracht hatte. Cirk beschloss, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Nichts und niemand konnten ihn nun mehr dazu zwingen, das unheilvolle Gift unter das Volk zu bringen. Und Cirk schwor sich, in seinem zukünftigen Leben immer unabhängig und frei zu sein. Sein eigener Herr. Für niemanden verantwortlich, niemandem etwas schuldig – und jetzt kommt das, was ich dir eigentlich vermitteln wollte –, Cirk beschloss, niemals wieder in seinem ganzen Leben einem Menschen Macht über sich zu geben, und sei es die Macht der Liebe. ,Ich werde niemals mein Herz verschenken‘, sagte er einmal lachend zu mir, ,ich werde nicht so dumm sein wie meine Mutter. Liebe ist eine süße Abhängigkeit, aber sie kann auch tödlich sein. Und ich will leben!‘ Es mag daher sein, Inken, dass er mit seiner Liebe zu dir nicht fertig geworden ist.Dass er vor ihr, vor dir, davongelaufen ist. Obwohl“, sie seufzte nachdenklich, „danach klangen die Worte in seinem Brief eigentlich nicht.“
Tjalda unterbrach sich und schwieg für eine Weile. Trotz des warmen Feuers, an dem sie saßen, waren Inkens Hände eiskalt.
„Das glaube ich auch nicht, Tjalda“, sagte sie schließlich. „Du versuchst mein Verständnis zu wecken für diesen Mann und sein Tun. Du willst die Vergangenheit als Entschuldigung für das plötzliche Gehen dieses Mannes heranziehen, der immer wie ein Sohn für dich war.“
Tjalda blickte Inken fest in die Augen. „Ja, das will ich. Ich kenne Cirk nun so viele Jahre und kann nicht glauben, mich so in ihm getäuscht zu haben. Nach außen hin war er immer ein Windhund, ein Bruder Leichtfuß, ein Schmuggler mit sieben Leben, der keinerlei Furcht kennt. Doch ich habe in all den Jahren oft in
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