Die Friesenrose
benannte er nach ihr. Cirk fuhr mit der Anna zumeist nach England, wo er sich mit einigen seiner Handelspartner besonders gut angefreundet hatte. Seine Zuverlässigkeit brachte ihm einen ausgezeichneten Ruf ein, und so blieben die Aufträge niemals aus. Cirk ist ein guter Kapitän, musst du wissen, und auf seine Mannschaft konnte er sich bedingungslos verlassen. Für sie war er ein Held, denn für die meisten seiner Leute war das Fahren auf seinem Schiff so etwas wie eine zweite Chance. Cirks Mannschaft bestand größtenteils aus Männern, die von der Gesellschaft fallen gelassen worden waren. Aber Cirk hat immer gesagt: ,Du, Tjalda, hast mir eine Chance gegeben. Und das Gleiche tue ich nun auch für meine Leute.‘ Die Männer hätten ihr letztes Hemd für ihn gegeben.
Doch dann kam die Zeit, in der kein Handel mehr möglich war, weil Napoleon durch die Kontinentalsperre die Geschäfte mit den Engländern zum Erliegen brachte. In allen Hafenorten und Sielen setzte er Grenzwächter ein, die kein Schiff mehr hinein- oder hinausließen – aber das ist dir ja alles bekannt. Für Cirk, der lieber ein Segel zu Schanden fuhr, als im Hafen eingesperrt zu sein, wurde das Verbot zu einer Herausforderung und er und seine Mannschaft die Schmugglerbande schlechthin. ,Was habe ich zu verlieren?‘, hat er mich einmal gefragt, als ich ihm Vorhaltungen machte. ,Ich bin niemandem Rechenschaft über mein Tun schuldig. Und außerdem macht es mir unglaublichen Spaß.‘“ Tjalda seufzte. „Du weißt, wie er sein kann. Dass ich fast umkam vor Angst, zählte natürlich nicht. Cirk machte es sich also zur Aufgabe, Waren von und nach England zu schmuggeln. Er übertölpelte die Aufpasser oder machtegemeinsame Sache mit ihnen. Du kennst ja die Geschichte mit dem kleinen Franzosen.“
Inken nickte. „Du meinst Hugues, den mit der ostfriesischen Liebschaft?“
„Genau. So wurden Cirk und seine Männer zu bekannten Schmugglern, und allerorts erzählte man sich von seinen Heldenstückchen. In dunklen Sturmnächten kreuzte er auf England zu oder schmuggelte von Helgoland aus Tee, Zucker Rosinen, Tabak und vieles mehr. Cirk kennt alle Untiefen und Tücken im friesischen Fahrwasser genau, und die Dunkelheit konnte ihn nicht schrecken. Außerdem profitierte er bei seinem Tun natürlich von den Erfahrungen seiner Kindheit. Aber Cirk hatte nie den Profit im Auge, wie so viele andere Schmuggler. Er gab vielmehr denen, die nichts mehr hatten und Not litten. Vielleicht wollte er wiedergutmachen, was seine Mutter unwillentlich verbrochen hatte.“ Tjalda holte tief Luft und stieß den Atem dann mit einem dumpfen Geräusch wieder aus.
Die Nacht war schon längst hereingebrochen, und Mondlicht schien durch das Fenster. Inken maß den Mond mit ungläubigem Staunen. Der Blick in Cirks Vergangenheit hatte die Stunden unbemerkt verstreichen lassen. Sie hatten geredet und an Dinge gerührt, die Inken immer noch in ihren Bann schlugen. Ein Schauern lief ihr über den Rücken, und schließlich stand sie fast zögernd auf. Sie durfte nicht zulassen, dass Cirks Geschichte ihr zu nahe kam, denn was würde ihr sonst noch als Waffe bleiben, wenn sie die Wut über seinen Verrat nicht mehr schützte?
„Danke, Tjalda“, sagte sie schließlich. „Danke, dass ich teilhaben durfte an deinem Fühlen und Denken. Du hast vielleicht geglaubt, es könnte meine Einstellung zu Cirk ändern. Das tut es nicht. Aber zu wissen, dass auch CirkZeiten unendlicher Verzweiflung in seinem Leben gekannt hat, mildert das Gefühl von Bitterkeit, das ich in mir habe. Gleichzeitig entdecke ich Züge meines Vaters in ihm, der auch immer für seine Ziele eingetreten ist. Für ihn gab es niemals ein Aufgeben, auch wenn die Niederlage unvermeidbar schien. Von ihm habe ich gelernt, Feiglinge zu verabscheuen und jeden zu verachten, der seine Pläne aufgibt, ohne die Umsetzung seiner Träume nicht wenigstens versucht zu haben.
Mein Vater hätte Cirk gemocht, doch er würde mir auch raten, jeden Gedanken an ihn zum Teufel zu schicken. Und das solltest du auch tun. Wir beide, nein“ – sie verbesserte sich –, „wir drei, denn Sumi gehört auch zu uns, haben jetzt Besseres zu tun. Wollen wir nicht ebenfalls einen Traum verwirklichen? Daran sollten wir nun alles setzen. Denn ein Ziel zu verfolgen lenkt von zu vielem Nachdenken und Trauer ab. Cirk ist fort, aber wir sind hier. Und hier haben wir unsere Aufgabe. Lass uns die Herausforderung annehmen.“
Inken schloss für einen Augenblick
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