Die Friesenrose
sein Inneres gesehen, Inken, und weiß, wie verletzlich er ist. Und diese Verletzlichkeit wurde in seiner Kindheit geboren. Überlege doch einmal, wie das damals für ihn gewesen sein muss! Aufzuwachsen ohne eine Familie, die ihm Halt gab. Ohne die Geborgenheit eines Zuhauses. Vielleicht sogar ohne Freunde und mit einer Mutter, die er liebte, aber der er nicht helfen konnte. Wie verzweifelt muss Cirk als Kind gewesen sein. Das hat ihn geprägt, hat diesen starken Hang nach Unabhängigkeit in ihm wachsen lassen. Und dann kamst du, Inken. Und mit dir überfiel die Liebe diesen Mann, der vorher immer ein Einzelgänger war. Natürlich hat es Frauen in seinem Leben gegeben. Aber niemals hat er eine von ihnen nahe an sich herangelassen.“
„Lass es gut sein mit deiner Theorie, Tjalda“, winkte Inken ab. „Lucia hat er ja offensichtlich sehr nahe an sich herankommenlassen. Aber darüber will ich jetzt nicht mehr nachdenken. Du machst dir im Hinblick auf Cirk etwas vor. Aber, sei es wie es will. Ich möchte allerdings nicht mehr mit dir über seine Gefühle reden. Was für mich zählt, sind allein Taten. Aber vielleicht erzählst du mir zum Schluss noch, was geschah, nachdem er als junger Bursche an deine Tür geklopft hat.“
„Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich nahm ihn bei mir auf und gab ihm Arbeit und Brot. Wir lernten schnell, einander zu vertrauen, als die Außenseiter der Gesellschaft, die wir waren. Die Leute zerrissen sich das Maul über uns. Sprachen von der alten Geldhändlerin und ihrem jungen Geliebten. Aber all dies störte uns nicht. Wir waren es gewohnt, in der Verachtung unserer Mitbürger zu baden. Mir machte es sogar Vergnügen, wenn ich manchmal die neidischen Blicke der jungen Frauen sah, die mir das Zusammensein mit Cirk missgönnten. Mehr und mehr verließen Cirk und ich uns nur noch aufeinander. So fielen auch die meisten meiner Ratschläge bei ihm auf fruchtbaren Boden. Nur die Idee, sich seinen Erbteil von der Familie seines Vaters zu holen, hat Cirk nie umgesetzt.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Inken nickte wie zur Bekräftigung mit dem Kopf. „Mit der Familie des Mannes, die meine Mutter ins Elend gestürzt hat, hätte ich auch nichts zu tun haben wollen!“
„Aber es wäre finanziell vielleicht von Vorteil gewesen. So musste sich Cirk aus eigener Kraft seinen Traum, Kapitän zu werden, erfüllen. Das nötige Geld dafür verdiente er sich abends, indem er über meinen Büchern saß. Dieser Mann besitzt eine angeborene Begabung dafür, gute Geschäfte zu wittern. Es hat mir nie leidgetan, ihn entgegen allen Unkenrufen bei mir aufgenommen zu haben. Außerdem eroberte er inWindeseile mein Herz. Ich liebte ihn bald wie einen Sohn, aber das weißt du ja. Deshalb bin ich nun auch so verzweifelt.“
Tjalda wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich vermisse ihn unendlich. So, wie ich ihn allezeit vermisst habe, wenn er auf große Fahrt ging. Wie oft war ich dem Schicksal gram. Hat es mich nicht schon oft genug leiden lassen? Da verliere ich meinen geliebten Vater an das Meer, und dann schickt mir Gott erneut einen Menschen, der mir etwas bedeutet, der sich aber nichts sehnlicher wünscht, als ausgerechnet Kapitän zu werden.“
„Für wen ist er gefahren?“, versuchte Inken sie abzulenken.
„Och, für verschiedene Reeder. Kurz vor dem Krieg zumeist auf Frachtschiffen nach England und Dänemark. So manches Mal bin ich mit fliegenden Fahnen zum Hafen geeilt, wenn die Nachricht kam, dass Cirk zurück sei. Oft habe ich zugeschaut, wie die Waren direkt vom Schiff von Hand zu Hand auf Pferdefuhrwerke oder kleinere Schiffe verfrachtet wurden. Ein kleiner Teil der Ladung verschwand zumeist in den Speichergebäuden der Stadt, die meisten Waren aber wurden auf Treidelwegen weiter ins Binnenland verschifft. Auf solch einem Treidelschiff ist Cirk in seiner Anfangszeit auch gefahren. Arbeit fand er immer. Du weißt ja, die Schifffahrt floriert, sofern nicht gerade Krieg ist. Fast alles, was wir brauchen, kommt auf dem Wasserweg zu uns. Doch Cirk war es nicht genug, einfach nur zu fahren, er wollte sein eigenes Schiff, um sein eigener Herr zu sein. Ehrgeizig verfolgte er sein Ziel, und nach sechs Jahren konnte er sich seinen Traum erfüllen. Von diesem Augenblick an war er mehr auf seinem Schiff als bei mir. Die Anna wurde sein Zuhause.“
Inken überhörte den Hauch von Bitterkeit in Tjaldas Stimme. „Cirks Schiff trägt den Namen seiner Mutter?“
„Ja, sein erstes Schiff
Weitere Kostenlose Bücher