Die Friesenrose
Inken kannten zwischenzeitlich fast jede Kundin beim Namen und schenkten jedem, der zu ihnen kam, ein Lächeln. Sie sprachen mit ihren Kunden über deren Kinder, den Haushalt und die Familienverhältnisse. Und viele von ihnen suchten zuweilen gezielt Sumi auf, um sich bei ihr Ratschläge zu holen. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Chinesin besondere Weisheiten zu vergeben hatte.
Inken seufzte. Sie hatten alles in allem ein schönes, wenn auch manchmal kein leichtes Leben. Wie schwer war es ihnen gefallen, besonders in der Weihnachtszeit, morgens in aller Frühe aufzustehen um zu backen, alles zu dekorieren und vorzubereiten. Doch wenn die Kruiderrie dann blinkte und blitzte vor Sauberkeit, der Kuchen duftend bereitstand, die Tische einladend gedeckt waren und sie auf die ersten Gäste warteten, erfüllte sie ein Gefühl tiefster Zufriedenheit. Ja, das war den gebrachten Einsatz wert. Und mit Sumi an ihrer Seite wog alle Arbeit nur noch halb so schwer.
Sumi war ein so guter Mensch und eine wahre Freundin. Inken war dankbar, die Chinesin, die nun im Hause ihres Vaters mit der Ausarbeitung ihrer allerneuesten Geschäftsidee beschäftigt war, an ihrer Seite zu wissen. Mit dieser Idee brachte Sumi – ohne es zu ahnen – auch Inkens Plan, nach Wallendorf zu gehen, ein Stückchen weiter voran. Vorfreude erfasste Inken, wenn sie an die Umsetzung ihrer Pläne dachte, und für einen Augenblick schob sie jeden anderen störenden Gedanken weit von sich.
Die Friesenrose
Inken musste lächeln, als sie die Chinesin mit Handwerkszeug und Malpult, den Pinsel zwischen den Fingern haltend, vor dem Haus auf einer Bank sitzen sah. Welch einen Anblick dieses so fremdartig anmutende Menschenkind mit seinem bunten Gewand aus Seide in dieser Insellandschaft doch bot! Wie ein exotischer Paradiesvogel hob sie sich vor dem mit Efeu bewachsenen Haus aus rotem Stein ab.
Das Haus war umgebaut worden. Inkens Vater bewohnte, wie früher, den vorderen Teil, doch die frei stehenden Stallungen boten nun Raum für Gäste. In dem direkt ans Haus angegliederten Stall war wieder die Ziege untergebracht, und es gab ein kleines Nebengebäude, in dem Wiebke für die Gäste kochen würde. „Das steinerne Dornröschen“ nannte Tjalda Inkens Elternhaus auf der Insel, und unter diesem Namen hatten sie die Quartiere auch in verschiedenen Wochenzeitungen angeboten.
Nie würde Inken vergessen, wie Sumi bei ihrem ersten Besuch auf der Insel reagiert hatte. Noch nie zuvor hatte sie die Wangen der Freundin so glühen sehen. Die zierliche Chinesin war wie verzaubert gewesen und hatte ihre Gefühle in der ihr eigenen Art in Worte gefasst: „Diese staunende Chinesin isst den Wind, trinkt die Sonne und hört den Himmel.“
Für einen Augenblick lehnte sich Inken gegen den Zaun aus Walkinnladen und beobachtete die in ihre Arbeit versunkene Chinesin. Dann schweifte ihr Blick zu dem in weiter Entfernung stehenden Leuchtturm. Er war ein kantiges Bauwerk, das fast 250 Jahre alt war und wie eine Trutzburg unbeeindruckt von allen Geschehnissen, die Borkum heimsuchten, das Land überragte. Den Leuchtturm verdankten die Borkumer den Emdern, von denen sie, als diese im 16. Jahrhundertihr beeindruckendes Rathaus gebaut hatten, die übrig gebliebenen Steine erhalten hatten, um den seit Jahrhunderten als Landmarke dienenden Borkumer Turm zu vergrößern.
Inkens Augen glitten weiter und betrachteten die ihr vertraute Landschaft. Die Vegetation auf der Insel wirkte nur auf den ersten Blick üppig grün und saftig. Wer jedoch genauer hinsah, konnte auch ein mattes Graugrün und zwischendrin ein sandfarbenes Gelb entdecken. In Emden hatte bei ihrer Abreise schon alles in Blüte gestanden, doch hier waren viele Inselpflanzen um diese Jahreszeit noch nicht einmal aus dem Boden gekrochen. Inken wusste, dass die Insel erst im Juli so richtig zu blühen und zu duften anfangen würde. Wie sehr liebte sie doch diese Pflanzen, ohne die es Borkum gar nicht geben würde und die zäh und hartnäckig sein mussten, um gegen den ewigen Wind, den stiebenden Sand und das Salz in Luft und Wasser bestehen zu können!
Die Nordfriesischen Inseln waren Reste des Festlandes, doch die Ostfriesischen Inseln ein Geschenk des Meeres. Zu Beginn hatte es nur die Gezeiten gegeben, Wind und Meer. Sand war ihr Spielzeug. Strömungen schufen Sandbänke, Vögel brachten Samen, die aufgingen und in deren Windschatten auch die Insel wuchs. Je mehr Strandhafer und Quecke mit Sand überschüttet wurden,
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