Die Friesenrose
desto heftiger trieben sie aus und erkämpften sich zäh neuen Lebensraum. Auf diese Weise wuchsen die Dünen zusammen mit den Pflanzen und schufen über Jahrhunderte hinweg neues Land. Land umgeben von Meer. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Pflanzen einen Platz auf Erden erkämpft hatten, ließ Inken wiederum an Sumi denken.
Die Chinesin hatte sie gerade in diesem Augenblick entdeckt und rief nach ihr. Schnell trat sie auf die Freundin zu und beugte sich neugierig über ihre Arbeit. Sumis Gesichtwar vor Eifer leicht gerötet. Und mit jedem Pinselstrich liebkoste sie das Reispapier und ließ einen Tupfen Farbe darauf zurück. Sumis Bilder erzählten meist von ihrer Heimat. Chinesische Damen in Blumengärten, Granatapfelbäume in Landschaften, Teesträucher, Vögel und Schmetterlinge zierten ihre Zeichnungen. Und immer hatten ihre Motive eine ganz eigene Bedeutung.
„Dieser Wasserbüffel im Vordergrund ist ein Symbol für Beharrlichkeit und Kraft“, erklärte Sumi beispielsweise. Oder: „Der Hahn steht für Mut und Wärme. Sein Krähen bedeutet Verdienst und Ruhm.“
Wie verzaubert blieben Inkens Augen an den Blumen hängen, die aus dem Pinsel zu fließen schienen. Dass Sumi eine Künstlerin war, hatte sich erst herausgestellt, nachdem sie – der Not gehorchend – Zeichnungen für die vermögenden Emderinnen erstellt hatte, die Porzellan in China ordern wollten, wozu es genauer Zeichnungen und Entwürfe von Tellern und Tassen bedurft hatte. Inken wusste, dass Sumi fast umkam vor Neugierde auf die fertigen Erzeugnisse. Hoffentlich war alles ihren Wünschen entsprechend umgesetzt worden.
Und dann war da noch Sumis Idee, den Emder Bräuten in der Kruiderrie eine Aussteuerkiste mit Porzellan für den täglichen Teegenuss anzubieten. „Diese bescheidene Künstlerin wird für das Geschirr ein Muster mit Blumen entwerfen. Vielleicht mit der Päonie, der Frühlingsblume, die den Beschenkten Freude und Glück bringen soll. Und weil schöne Dinge auch in einer schönen Verpackung präsentiert werden sollten, werden die wunderschön bemalten Teekisten aus China, mit Samt ausgeschlagen und mit Rosenöl bestäubt, zusammen mit dem Porzellen eine Augenweide für die ostfriesischen Bräute sein.“
Was in die Aussteuerkiste gehörte, hatte schnell festgestanden:eine Teedose, die passende Kanne, auch liebevoll Treckpot genannt, Tassen und eine Spülschale, in der die Koppkes ausgespült werden konnten. Dazu würden sie natürlich – und das nicht zu knapp – Friesengold hineinpacken.
An der zeichnerischen Umsetzung dieser Idee arbeitete Sumi gerade. Inken war entzückt über die leuchtend rote Rose, die, von dunkelgrünen Blättern umgeben, das Teegeschirr auf der Zeichnung schmückte. Die halbkugeligen Tassen waren den chinesischen Teeschalen nachempfunden, standen aber, wie es die Ostfriesen liebten, auf tiefen Untertassen, Schöttelkes , in die manchmal der noch heiße Tee gegossen wurde, um eher trinkbereit zu sein.
„Diese Chinesin denkt gerade darüber nach, dass jeder Teetrinker in der Familie seine eigene Tasse haben könnte. Mit den eigenen Anfangsbuchstaben in Goldschrift auf dem Dekor dieser Frühlingsblume.“ Sumi hielt für einen Augenblick inne.
„Ideen haben wir genug, Sumi“, lachte Inken und dachte an ihren eigenen Plan. Wenn alles gut gehen würde, dann wären sie nicht mehr abhängig von den Porzellan-Lieferungen aus China.
Und bevor sie überlegte, waren ihr die Worte auch schon über die Lippen geschlüpft: „Sumi, ich werde für einige Zeit fortgehen.“
Einen winzigen Moment lang starrte Sumi sie nur mit großen Augen an. Dann legte sie langsam den Pinsel aus der Hand. „Um zu vergessen?“
Inken biss sich auf die Lippen. „Vielleicht. Aber auch, um das beste Teegeschirr für uns nach Ostfriesland zu holen. Du erinnerst dich doch noch an diesen Händler aus Thüringen, genauer gesagt aus Wallendorf. Er erzählte davon, dass sich mittlerweile herumgesprochen hätte, dass die Ostfriesen leidenschaftlicheTeetrinker sind und gediegenes Porzellan für die Teezeremonie lieben. Deshalb hatte er die lange Reise zu uns ja auch angetreten. Nun will ich die Thüringer davon überzeugen, dass die Ostfriesen nicht nur ein gediegenes, sondern geradezu ein spezielles Porzellan brauchen, ein ostfriesisches. Dein Motiv, die friesische Rose, gehört auf unser Porzellan. Ich will ein außergewöhnliches Geschirr für Ostfriesland, so eigen und besonders wie die Ostfriesen selbst. Passend zu der
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