Die Friesenrose
nur zum Teil.
„Und das bedeutete“, hörte Inken den alten Klaas wieder erzählen, „dass es keine Überlebenden geben durfte.“ So einfach war das! Doch dieses barbarische Treiben lag lange zurück, so dass Inken davon ausgehen konnte, dass das heutige Frachtschiff nicht von den Insulanern aufs Riff gelockt worden war.
Wie aber um Himmels willen hatte das Unglück überhaupt geschehen können? Das Wetter war weder gestern noch heute Nacht tückisch gewesen und die See ruhig. Dann aber, als ob sie eine Eingebung hätte, wusste Inken plötzlich, warum die Stimme ihres Vaters kurz gestockt hatte und warum er so ergriffen war. Es war nicht irgendein Frachtschiff, das dort vor Borkum lag. Es war ihr Schiff, das auf dem Riff lag. Es war die Maisje!
Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es kaum vermochte, die Knöpfe ihres Kleides zu schließen. Mit bebenden Lippen trat sie nach draußen, wo schon ihr Vater auf sie wartete. Er trug seine Kapitänskleidung und lief, entgegen seiner sonstigen ruhigen Art, aufgeregt hin und her. Unter seinem besorgten Blick straffte Inken die Schultern.
„Du braucht nichts zu sagen. Ich kann mir schon denken, welches Handelsschiff da draußen auf dem Riff hängt.“
„Nein, es ist nicht, wie du denkst.“ Hinderk Inkens warf seiner Tochter einen langen Blick zu. Er legte ihr einen Arm um die Schultern. „Es ist nicht die Maisje da draußen. Es ist die Burg von Emden.“
Inken schloss die Augen. Für einen winzigen Augenblick dachte sie, ihr Herz würde stehen bleiben. Cirks Schiff! Vergessen war auf einmal alles, was dieser Mann ihr angetan hatte, und übrig blieb nur bodenlose Furcht. Was war geschehen? Cirk verstand sich aufs Segeln, und das Borkumer Riff wäre allerhöchstens bei Sturm eine Gefahr für ihn gewesen. Doch es blieb ihr keine Zeit für lange Überlegungen und Mutmaßungen.
„Ich wusste, dass du dich sorgen würdest“, sagte ihr Vater bewusst ruhig. „Aber vielleicht ist es nicht so schlimm, wie wir denken.“
Er nahm seine Tochter beim Arm, und gemeinsam eilten sie in Richtung Strand, wo Garrelt ihnen auf halbem Weg schon keuchend entgegenkam. „Hinderk, gut, dass du kommst. Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mit unseren Fischerbooten schnellstmöglich zu Hilfe eilen zu können. Doch ob du es nun glaubst oder nicht – unsere Hilfe wird gar nicht gebraucht.“ Seine letzten Worte klangen zynisch.
„Das Schiff will oder braucht keine Hilfe? Wie denn das?“ Befremdet blickte Hinderks seinen Freund an.
Garrelt lachte bitter. „Zehn fremde Fischerboote sind plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht und umschwirren die Burg von Emden wie Motten das Licht. Abgekartetes Spiel, wenn du mich fragst. Absichtlich aufgelaufen, der Kahn!“
Ungläubig maß Inken ihn. „Glaubst du wirklich, Garrelt?“ Sie konnte es sich nicht vorstellen. Und doch …
„Da segelt ein Schiff mehr als 28000 Seemeilen und strandet dann bei klarem Wetter kurz vor dem Ziel auf unser Borkumer Riff? Ich sage euch, das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein“, sprach Garrelt aus, was Inken sich insgeheim dachte. Grimmig schritt er aus, und die beiden folgten ihm.
„Wann ist das Unglück eigentlich geschehen, und woher wisst ihr davon?“ Inken versuchte das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Das war so …“ Garrelt schnäuzte sich geräuschvoll. „Der alte Abel, du kennst ihn, Inken, hat mich heute in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geholt. Er selbst steht immer schon vor den Möwen auf und sucht den Strand ab. Nun, zwischen Nacht und Tag haben seine Augen die fette Beute entdeckt. Und so kam Abel ganz schnell an meine Tür. Ich bin darauf gleich los, habe die anderen Fischer zusammengetrommelt – das Nachrichtennetz ist hier hervorragend seit der Franzosenzeit –, und nun stehen wir alle bereit um zu helfen, wollten eigentlich gerade auslaufen.
Das Frachtschiff liegt mit Schlagseite auf Grund. Es ist jetzt Ebbe und da wäre es das Beste, den Kahn so weit zu erleichtern, dass er wieder freikommen kann. Allerdings werden wir, wie ich gerade schon sagte, anscheinend gar nicht mehr gebraucht. Zehn Fischerboote dümpeln um den Kahn herum. Und keines gehört einem Borkumer.“ Er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. „Keine Stunde nach der Havarie war schon der erste Geier da. Diese Tatsache spricht Bände!“
„Du glaubst also wirklich, dass die Schiffer da draußen von der Strandung gewusst haben, bevor sie überhaupt geschehen ist?“
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