Die Friesenrose
sind, weiß ich nicht. Da will ich jetzt auch nicht lange drüber nachdenken. Wo warst du stehen geblieben, Sumi? Ach ja, bei der Kruiderrie. Ihr hattet also einen Krämerladen zu einer Zeit, als sich der Kauf und Verkauf von Waren hier in Ostfriesland noch ausschließlich auf den Wochenmärkten abspielte.“
Diese neigte bejahend den Kopf. „Der geschätzte Ehegatte dieser Frau pflegte zu sagen, dass schon zu Zeiten seines Großvaters die Tage, wo vornehme Damen, gefolgt von der Köchin und einem Küchenjungen, majestätisch über den Marktplatz schritten, um persönlich mit der Fischfrau, der Grünhökerin und dem Schlachter zu verhandeln, der Vergangenheit angehörten. Als der geschäftstüchtige Mann dieser Chinesin seine Kruiderrie eröffnete, war es für viele längst nicht mehr mit dem ,guten Ton‘ vereinbar, direkt auf dem Markt einzukaufen. An den Marktständen der Bauern und Großhändler drängten sich stattdessen die Besitzer der Krämerläden. Diese mutige Chinesin hat ihren geliebten Mann stets zum Großhandelsmarkt begleitet. Er fand in aller Frühe statt, und die Menschen dort interessierten sich ausnahmsweise weitaus mehr für die dargebotenen Waren als für diese Chinesin.“
Sumi sah für einen kurzen Moment wieder alles genau vor sich: die ehrwürdigen Kaufleute in stilvoll dunklen Röcken mit Zylindern auf den Köpfen. Das Schieben und Drängen an den Ständen, um noch rechtzeitig in den Besitz der Waren zu kommen. Denn manchmal war schon nach nur einem Turmuhrschlag der eine oder andere Stand leer gekauft. Tabak und Tran, Tee und natürlich der unvermeidliche Branntwein standen zum Verkauf. Es gab Stände mit Blumen und Pfeifen, aber auch Fässer, Besen, Metallwaren und sogar Uhren wurden angeboten. Sie hatte sich nicht sattsehen können an all den Waren und Menschen.
Zögernd nur wandte Sumi sich wieder ihren Zuhörern zu und fuhr fort: „Es gab aber nicht nur den Markt, um sich einzudecken. Vieles wurde damals schon – wie es heutzutage üblich ist – direkt bis zum Laden geliefert. Dann stand diese Chinesin voller Neugier am Fenster, wenn die Schleifen mit Waren aus den umliegenden Dörfern kamen und eine bunte Mischung aus Korn, Obst und Gemüse, Bauholz und Räucherspeck brachten.“
„Warte kurz.“ Tjalda runzelte die Stirn. „Schleifen – was meinst du damit?“
Sumis Hand fuhr zur Stirn. „Ach ja, diese gedankenlose Chinesin vergaß, dass die geschätzten Freunde keine Schleifen kennen. Das sind Kutschenschlitten, Kutschen oder Karren ohne Räder, die auf zwei gebogenen Hölzern ruhen und von einem Pferd langsam gezogen werden. In Amsterdam herrschte damals solch ein hohes Verkehrsaufkommen, dass die Händler und Reisenden mit ihren Fuhrwerken vor den Stadttoren halten und die Waren dort auf kleinere Gefährte umladen mussten. Und um die Lärmbelästigung durch die ratternden Räder auf dem holprigen Pflaster zu mindern, verwandte man zum Transport der Waren in die Stadt Schleifen .Damit sie sanft und geräuscharm gleiten konnten, mussten die Kutschenschlitten häufig eingefettet werden, und Männer, mit Seilen und Haken ausgerüstet, verdienten sich ihr tägliches Brot damit, diese oft schweren Gespanne über die stark gewölbten Brücken zu ziehen.“
„Das würde ich zu gerne einmal sehen.“ Mit leuchtenden Augen hatte Inken dem Bericht ihrer Freundin gelauscht.
„Ja, die Kutschen auf Kufen sind etwas Besonderes. Mit ihnen kamen auch die Waren der Fernhändler bis vor die Tür der Kruiderrie: feine Tuche, Wachs und Honig, aber auch Porzellan und natürlich Tee. Über die feinen Seidenstoffe aus China konnte sich diese Chinesin freuen wie ein Kind. Wenn sie die vertrauten Motive sah und ihre Augen deren Farben tranken, dann fühlte sie sich reich beschenkt. Aber am wichtigsten war der Tee, ohne den diese Chinesin nicht leben könnte.“
„Das klingt eigentlich nicht so, als ob du damals in Amsterdam nur unglücklich gewesen bist“, sinnierte Tjalda. „War es der Krieg, der euch vertrieben hat?“ Sumi nickte. „Das habe ich mir gedacht. Damals kamen unzählige Vertriebene zu uns nach Ostfriesland. Alle, die nicht für, sondern gegen Napoleon waren, haben ihre Sachen gepackt, stimmt’s, Sumi?“
„Ja, so war es. Für den geliebten Mann war es ein bitterer Weg, denn die Kruiderrie lief sehr gut. Doch der Handel kam von einem Tag auf den nächsten zum Erliegen, als der Amsterdamer Hafen blockiert wurde. Holland war ja schon einige Zeit von den Franzosen
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