Die Frucht des Bösen
Scheidung sprach, hat er wahrscheinlich …»
Ich konnte mir die Szene vorstellen. Die Pistole, die ich ihr gegeben hatte, lag wahrscheinlich auf dem Nachttischchen. Als Mom meinen betrunkenen Vater anschrie und verlangte, unverzüglich das Haus zu verlassen, und er die Pistole auf dem Nachttischchen sah, brannten bei ihm sämtliche Sicherungen durch und er griff zur Waffe …
Von dem Geschrei alarmiert, trat Natalie in den Flur hinaus. Johnny kam erst, als es schon geknallt hatte.
Obwohl seitdem Jahre vergangen waren, liebte ich sie immer noch. Wäre mir damals bewusst gewesen, dass ich vor der Wahl stand, den Missbrauch zu dulden oder meine Familie zu opfern, hätte ich mich ohne zu zögern für Ersteres entschieden.
«Danielle», versuchte es meine Tante noch einmal, «es war nicht deine Schuld.»
«Ach, verdammt. Komm mir doch nicht immer mit derselben Leier.»
«Du könntest ja zur Abwechslung einmal damit anfangen, auf meine und Dr. Franks Worte zu hören.»
«Wir waren eine Familie. Fünf Dominosteine, wenn man so will, so dicht aufgestellt, dass eine Kettenreaktion nicht ausbleiben konnte. Hätte er nicht getrunken, sie nicht an Scheidung gedacht und ich diese verfluchte Waffe nie in die Hand genommen … Aber ich habe sie ins Schlafzimmer meiner Eltern gebracht, mich meiner Mutter offenbart und damit den ersten Dominostein angetippt. Und so mussten alle fallen.»
«Allein deinen Vater trifft die Schuld!», zischte meine Tante.
«Weil er deine Schwester getötet hat?», entgegnete ich nicht minder scharf. «Oder weil er dir eins seiner Bälger zugemutet hat?»
Sie kam in drei schnellen Schritten auf mich zu und schlug mir ins Gesicht. Ich erschrak, so weh tat mir der Schlag, vor allem aber erschrak ich über ihren Zorn.
«Wage es nicht noch einmal, dich so klein zu machen! Verflixt, Danielle. Ich liebe dich, seit du auf der Welt bist. Ich liebe dich nicht weniger als Jenny und Natalie oder Johnny. Ich hätte euch alle bei mir aufgenommen, auch wenn mein albernes kleines Apartment aus allen Nähten geplatzt wäre. Aber Jenny hatte einen Plan. Und weil ich die gute ältere Schwester war, habe ich ihr zugehört und zugetraut, dass sie ihr Leben selbst meistern kann. Wenn sie aber versagt hat, ist das weder meine noch deine Schuld. So ist das Leben. Dein Vater war einfach ein durchgeknallter Mistkerl. Du tätest gut daran, dich endlich einmal auszuheulen. Und dann lass dir endlich helfen. Das hätten auch deine Mutter und Geschwister nicht anders gewollt.»
So unerwartet und plötzlich wie ihr Schlag kam ihre Umarmung. Sie drückte mich an sich, und ich ließ es mir gefallen. Ich ergab mich meiner Tante, meiner Mutter. Mit der Zeit hatten sich die Unterschiede verwischt.
«Ich liebe dich», flüsterte mir die Tante ins Ohr. «Etwas Besseres als dich hätte mir gar nicht passieren können, so schrecklich die Umstände auch waren.»
«Ich hätte sie so gern zurück.»
«Ich weiß, mein Herz.»
«Ich kann sie mir gar nicht mehr richtig vorstellen. Ich sehe nur noch dich.»
«Du musst sie dir nicht vor Augen führen können, Danielle. Solange du sie im Herzen fühlst –»
«Ich kann’s nicht», protestierte ich. «Es tut zu weh. Selbst nach fünfundzwanzig Jahren noch.»
«Dann lass es wehtun. Niemand verlangt, dass man Familie nur mit guten Gefühlen verbindet.»
Aber ich hörte gar nicht mehr zu. Stattdessen wähnte ich mich zurückversetzt in dieses Schlafzimmer, wo ich meiner Mutter die Pistole reichte, voller Vertrauen darauf, dass die Frau mit den Augen meiner Tante alles zum Guten führen würde.
«Geh ins Bett, Schatz»,
flüsterte sie.
«Schnell. Bevor er dich sieht. Ich kümmere mich um alles. Versprochen.»
In meiner Erinnerung sah ich, wie sie mir die Pistole aus der Hand nahm und vorsichtig auf das Nachttischchen legte. Vor den Wecker …
Ich erstarrte und zwang mich, diese letzte Sequenz noch einmal aufzurufen: Meine Mutter legte vorsichtig die Pistole vor den Wecker, eine Digitaluhr mit roten Leuchtziffern – 22 : 23 Uhr. Ich eilte zurück in mein Zimmer, zog mir die Decke über den Kopf und blendete alles Weitere aus.
22 : 23 Uhr. Das Gespräch mit meiner Mutter hatte kurz vor halb elf stattgefunden.
Aber laut Polizeibericht starben meine Mutter, meine Geschwister und mein Vater nach eins, also mindestens anderthalb Stunden später.
Ich löste mich aus den Armen meiner Tante. «Ich muss gehen.»
«Danielle –»
«Mach dir keine Sorgen. Du hast recht,
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