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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Apartment in der Innenstadt ausgezogen und bewohnte seitdem ein neueres Haus am Stadtrand, mit dem sie weniger Arbeit hatte. Ihren Job in der Anwaltskanzlei hatte sie auch aufgegeben und arbeitete stattdessen dreißig Stunden in der Woche für eine gemeinnützige Einrichtung, die sich für die rechtliche und finanzielle Unterstützung missbrauchter und gefährdeter Kinder einsetzte. Die Arbeit gefiel ihr, weil sie damit, wie sie sagte, im Vergleich zu ihrer früheren Karriere eine Hundertachtzig-Grad-Wendung vollzogen habe. Sie schützte nun nicht mehr Geldsäcke, sondern setzte sich für die Rechte von Kindern ein.
    Man hätte meinen sollen, dass unsere Gespräche einfacher verlaufen wären, wenn wir uns gelegentlich zum Abendessen bei ihr trafen. Aber über unsere Arbeit unterhielten wir uns nicht, was wahrscheinlich daran lag, dass wir nun beide einen Job hatten, den man nach Feierabend am Arbeitsplatz zurücklassen musste. Ansonsten würde man durchdrehen.
    «Kaffee?», fragte sie und führte mich in die kleine, aber teuer ausgestattete Küche.
    «Whisky.»
    Leider hielt sie meine Antwort für einen Scherz und schenkte uns beiden ein Glas Wasser ein. Ich hätte mich gern ein bisschen gestärkt für das, was nun anstand.
    Sie trug die Gläser ins Esszimmer, das ebenfalls klein, aber mit seinem polierten Parkett, dem weiß lackierten Kaminsims und der gewölbten Decke wunderschön eingerichtet war. Durch eine Glastür gelangte man in einen Wintergarten mit weitem Blick über die grüne Moorlandschaft. Im Frühsommer saßen wir meist dort und beobachteten die Reiher. Jetzt, Ende August, war es unter dem Glasdach zu heiß und zu stickig.
    Wir machten es uns auf dem L-förmigen Sofa bequem. Ich nippte an meinem Wasser und spürte die durch den Ventilator angenehm gekühlte Luft über mein Gesicht streichen. Tante Helen schwieg. Ihre Hände, mit denen sie das Glas hielt, zitterten. Sie mied den Blickkontakt zu mir und schaute auf den Boden.
    Um diese Jahreszeit schien es ihr immer noch schlechter zu gehen als mir. Vielleicht, weil sie sich gestattete, eine Woche lang zu trauern und die Schleusen zu öffnen. Sie weinte, haderte und baute ihre Anspannung ab. Anschließend riss sie sich wieder zusammen und ging ihren alltäglichen Geschäften nach.
    Ich konnte das nicht, hatte es nie gekonnt. Es war mir nie gegeben. Ich wollte die Schleusen nicht öffnen, aus Angst, sie nicht mehr schließen zu können. Außerdem war mir nach all den Jahren nur die Wut übrig geblieben, tiefsitzende Wut, die an mir nagte. Aus diesem Grund besuchte ich meine Tante während dieser für uns beide kritischen Zeit sonst nie. Ich konnte es nicht aushalten, sie weinen zu sehen, wenn ich am liebsten das ganze Haus kurz und klein geschlagen hätte.
    Wahrscheinlich hatte ich sie an diesem Tag mit meinem Besuch überrascht. Sie drehte das Wasserglas zwischen den Fingern und wartete darauf, dass ich zu sprechen begann.
    «Wie geht’s?» Dumme Frage.
    «Das kannst du dir doch vorstellen», sagte sie schulterzuckend. Bessere Antwort.
    Ich räusperte mich und schaute durchs Fenster, vor dem die Sonne schien. Meine Augen fingen zu brennen an, und ich musste mich zusammenreißen, um die Fassung zu bewahren.
    «Es ist etwas passiert», gelang es mir schließlich zu sagen.
    Ihre Hände standen plötzlich still. Sie hob den Blick, und ich starrte unversehens in die blauen Augen meiner Mutter. Ich stand in der Tür zu ihrem Schlafzimmer, hielt die Pistole meines Vaters hinter dem Rücken versteckt und versuchte, Mut aufzubringen für das, was ich ihr nun sagen musste.
    «Er hat mich missbraucht», hörte ich mich flüstern.
    «Danielle?», fragte meine Tante mit der Stimme meiner Mutter. Sie waren für mich eins, die Schwestern, die beide behaupteten, mich zu lieben.
    Ich fuhr mit der Zunge über die Lippen und zwang mich weiterzureden. «Mein Vater. In den Nächten, wenn er getrunken hatte. Manchmal kam er mitten in der Nacht zu mir ins Zimmer.»
    «Oh, Danielle.»
    «Er sagte, wenn ich täte, was er wollte, würde er nicht mehr so viel trinken müssen. Er wäre dann froh und die ganze Familie glücklich.»
    «Oh, Danielle.»
    «Anfangs habe ich es versucht. Ich dachte, wenn ich ihn glücklich mache, würde ich meine Mom nachts nicht mehr weinen hören müssen. Alles könnte besser werden. Alles könnte in Ordnung kommen.»
    Meine Tante sagte nichts. Sie sah mich nur an aus den sorgenvollen blauen Augen meiner Mutter.
    «Aber es wurde schlimmer. Er trank

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