Die Frucht des Bösen
dieser Station.
Ed richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf Aimee, die sich mit der Schere an ihrer Halsschlagader zu schaffen machte. Ihre dunklen Augen sahen aus wie totes Glas.
«Hey, Aimee», sagte er, eine Spur schärfer jetzt. «Ich weiß, dass es dir wichtig ist, nicht angefasst zu werden. Du willst, dass wir in Ruhe miteinander reden. Aber damit kommen wir jetzt nicht weiter. Du kennst die Regeln unserer Station. Wir behandeln den anderen und uns selbst mit Respekt. Diesen Respekt zeigst du im Augenblick nicht. Du verletzt dich selbst und hörst mir nicht zu. Ich zähle jetzt bis zehn, Aimee. Dann komme ich zu dir.»
Noch mehr Getöse. Weitere Schreie, diesmal aber nicht von Benny, sondern von einem anderen Kind. Der Irrsinn schien von Zimmer auf Zimmer überzuspringen. Seelenruhig fuhr Aimee sich mit der Schere über die linke Handfläche. Sie betrachtete die Wunde und ritzte eine zweite daneben.
«Greifen Sie endlich ein!», zischte D. D. der Stationsleiterin ins Ohr. «Ich halte sie fest, Sie nehmen ihr die Schere ab. Los jetzt!»
Karen klammerte ihre Hand um D. D.s Unterarm. «Die Schnitte sind nicht weiter tragisch und werden bald heilen. Wenn wir aber ihr Vertrauen verlieren, sind Monate harter Arbeit umsonst …»
«Sie filetiert ihre Haut –»
«Fünf, sechs, sieben …», zählte Ed.
«Nein, nein, nein», schrie ein anderes Kind irgendwo. «Das mach ich nicht. Kommt gar nicht in Frage, DU VERDAMMTE FOTZE !»
«Pssst, schön ruhig bleiben.»
«¡Diablo, Diablo, Diablo!»
D. D. hielt es nicht mehr aus. Sie war drauf und dran, über Aimee herzufallen und ihr die Schere zu entreißen, um gleich darauf den Flur entlangzulaufen und den rasenden Benny zur Ruhe zu zwingen. Und es gäbe noch mehr zu tun, an vielen anderen Stellen. Weitere Schreie wurden laut, und dieses schwarzäugige Mädchen hatte sichtlich Lust daran, sich mit einer Bastelschere zu verunstalten …
«Acht, neun, zehn.»
Der MC straffte seine Schultern und trat entschlossen einen Schritt vor. Aimee hob die Schere an ihre Brust, und D. D. glaubte zu wissen, was sie vorhatte.
«Aufhören!»,
wollte sie schreien und auf das Mädchen zustürzen.
Aimees weiße Hand schnellte nach unten. Die blutverschmierte Schere sauste durch die Luft.
« ICH MACH EUCH FERTIG. BRING EUCH ALLE UM. WARTET’S AB WARTET’S AB. ICH WERDE MICH AN EUCH RÄCHEN –»
Ed packte Aimee beim Handgelenk. Er drehte ihr den Arm auf den Rücken, so schnell und effektiv, wie es kein Cop hätte besser machen können. Das Mädchen schrie kurz auf. Die Schere fiel auf den Boden. Kraftlos sackte Aimee in sich zusammen.
«Ich hole Verbandszeug», sagte Karen.
Die Schreie weiter hinten im Flur nahmen kein Ende.
Es dauerte eine Stunde, um auf der Station wieder halbwegs Ordnung herzustellen. Die Kinder wurden mit Medikamenten und Musik ruhiggestellt; zur Ablenkung gab man ihnen Gameboys oder las ihnen endlos lange Geschichten vor. Als unerfahrene Außenseiter waren D. D. und ihr Team ins Klassenzimmer verbannt worden, wo sie Berichte und Protokolle zu lesen versuchten, aber immer wieder gestört wurden von spitzen Schreien und gelegentlichem Gepolter.
D. D. konnte nicht still sitzen, genauso wenig wie Alex. Sie liefen im Flur auf und ab und fühlten sich so aufgedreht wie die Kinder.
«Negative Energie», sagte Alex, die Hände tief in den Taschen vergraben, wo sie mit Kleingeld klimperten.
«Blödmann.»
«Na bitte, der sprechende Beweis.»
«Du kannst mich mal.»
«Und was sagt dein innerer Engel?»
«Der rastet gleich aus.»
«Unser Schamane hat recht. Solche Schwingungen wie hier habe ich das letzte Mal im Souza-Baranowski wahrgenommen.» Das Souza-Baranowski Correctional Center war das Hochsicherheitsgefängnis von Massachusetts.
«Kein Wunder in geschlossenen Einrichtungen. Einer dreht durch, und kurz darauf steht der ganze Laden kopf.»
«Wegen der schlechten Energien.»
«Ja. Und ich dreh auch gleich durch.»
«Vielleicht sollten wir uns in eine leere Besenkammer zurückziehen und uns austoben.»
D. D. hielt die Luft an, zwinkerte ein paarmal mit den Augen und war echt schockiert, weil ihr genau danach der Sinn stand: Alex das Hemd vom Leib zu reißen, ihre Finger in seine Schultern zu krallen und ihn ranzunehmen wie –
Ihre Miene zeigte offenbar deutlich, was ihr durch den Kopf ging, denn seine Augen verschleierten sich. «Ich würde mir den Ausdruck auf deinem Gesicht ja gerne selbst zuschreiben, fürchte aber, unser
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