Die Frucht des Bösen
die Erdbeeren an.
«Das erinnert mich – ich muss einkaufen», sagt sie und nimmt sich eine Erdbeere. «Wo gibt’s hier eigentlich den nächsten Supermarkt?»
Ich gebe Auskunft, worauf sie einen Notizblock aus der Windeltasche fischt und mich um eine Skizze bittet. Ich trage auch gleich die besten Restaurants, einen guten Buchladen und die tolle Bäckerei an der Huron Avenue ein. Mir fällt auf, dass ich im Grunde mein früheres Leben skizziere. Hier sollten Sie einkaufen und essen gehen. Das sind Orte, die Ihnen, Ihrem Mann und Sohn gefallen werden.
Cambridge ist ein wirklich schönes Nest, voll historischer Grandeur, durchmischt mit modischen Highlights der Harvard-Szene. Vielleicht sollte ich häufiger mit Evan in den Park gehen. Vielleicht könnte ich es einmal wieder mit der Spielgruppe für Kinder mit besonderen Anforderungen versuchen. Oder vielleicht mal wieder ins Freibad gehen. Evan schwimmt gern, es lenkt ihn ab und macht ihn müde. Ich könnte mich mit einem Buch in die Sonne setzen und ein paar leckere Cocktails für uns besorgen. Erdbeer-Shakes oder Kinder-Piña-Coladas. Michael und ich waren einmal in Baja, wo es die besten Piña Coladas überhaupt gab, gemacht aus frischem Fruchtsaft und Rum. Wir haben am Strand gesessen, während vor uns die Sonne unterging, unsere Füße in den warmen Sand gesteckt, weißen Sand …
«Victoria?»
Ich phantasiere und mache wieder den Fehler, an bessere Tage zurückzudenken, an ein Leben jenseits des Käfigs, in dem ich nun gefangen bin. Beckis Ruf bringt mich zur Besinnung. Ich lasse den Notizblock sinken, auf dem ich gerade das beste Café eingetragen habe, und blicke auf den Spielplatz. Es dauert nur eine Sekunde, bis sich mir der schrille Ton in Beckis Stimme erklärt.
Evan und der kleine Junge sind verschwunden.
In meiner ersten Reaktion gebe ich Platituden zum Besten. Weit werden sie nicht sein, vor einer Minute haben wir sie doch noch gesehen. Sie könne ja auf der Straße nachsehen, ich in dem Wäldchen da drüben.
Becki eilt sofort zum leeren Gehweg hin. Ich laufe schnurstracks auf die Büsche zu und rufe Evan und Ronnie bei ihren Namen. Nichts.
Mein Herz klopft, mein Atem ist flach. Vielleicht spielen die beiden Verstecken. Vielleicht hat Evan den Knirps davontrippeln sehen und ist ihm nach. Vielleicht hat sie irgendetwas neugierig gemacht. So was kommt vor.
Ich laufe den weiten Weg um das Wäldchen herum, rufe und rufe. Nichts. Rein gar nichts.
Allmählich mache ich mir Vorwürfe. Mir kommen die beiden Jungen aus Großbritannien in den Sinn, die ein Kleinkind aus einem Shopping-Center weggelockt und es neben dem Schotterbett einer Gleisanlage getötet haben. Und ich denke an einen Vorfall aus der näheren Umgebung, als zwei Teenager einem siebenjährigen Jungen so lange Kieselsteine in den Mund gesteckt haben, bis er tot war. Sie hatten sein Fahrrad gestohlen und wollten nicht, dass er sie bei ihren Eltern verriet. Und dann war da dieser Sechsjährige, der einen Dreijährigen mit Benzin überschüttet und angezündet hat. Oder das Kind, das einem Nachbarmädchen mit einem Ringergriff den Hals gebrochen und ihre Leiche unter einer Matratze versteckt hat.
Das Wäldchen ist nicht besonders groß. Zwischen den Stämmen und Zweigen kann man die Häuser auf der anderen Seite erkennen. Es ist noch ganz still, so früh am Morgen. Sie müssten mich hören. Zumindest Ronnie würde doch wohl antworten.
Es sei denn, Evan hindert ihn daran.
Mein Puls spielt verrückt, mir schwimmen Funken vor den Augen. Ich fürchte, in Ohnmacht zu fallen.
Du darfst jetzt nicht schlappmachen. Du musst nachdenken … nachdenken.
Evan antwortet nicht. Warum antwortet er nicht? Er will nicht, dass ich ihn finde. Er spielt irgendein Spiel und möchte nicht gestört werden. Er hat sich etwas in den Kopf gesetzt und hält daran fest.
Es kommt auf den richtigen Anreiz an. Das lernen Eltern relativ schnell. Evan reagiert nicht, weil es für ihn nicht wichtig genug ist, mich von meiner Sorge zu entlasten. Er braucht einen stärkeren Anreiz.
«Frühstücken», rufe ich betont gelassen. Inzwischen ist auch Becki auf dem Fußballplatz und rennt mit mir die Seitenauslinie entlang. «Es gibt Bananen-Muffins und Erdbeeren! Komm, Evan, du hast doch bestimmt Hunger.»
Evan liebt Bananen-Muffins. Etwas anderes brauche ich gar nicht erst zu backen.
Becki übernimmt das Rufen. Wir suchen die mit Dickicht bewachsenen Ränder des Wäldchens ab. «Frühstücken. Muffins und
Weitere Kostenlose Bücher