Die Frucht des Bösen
Erdbeeren. Kommt, Jungs, es wird spät.»
Ich höre ihrer Stimme an, dass sie von Minute zu Minute immer mehr in Panik gerät. Den Kleinen dreißig Sekunden aus den Augen verloren zu haben ist noch kein Problem, aber nach ein paar Minuten intensiver Suche sieht das schon anders aus.
Es funktioniert nicht. Evan lässt sich auch von Bananen-Muffins nicht locken. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen.
Ich gehe zu Becki zurück und drehe sie so herum, dass wir das Wäldchen im Rücken haben. «Evan spielt manchmal Verstecken», erkläre ich und frage mich, ob ihr der Klang meiner Stimme so dünn und angespannt vorkommt wie mir. «Dann zeigt er sich erst, wenn es einen guten Grund dafür gibt.»
«Wie bitte?» Sie hat mir offenbar nicht zugehört.
«Haben Sie ein Handy?»
«Ja.» Sie holt es aus der Tasche. Ich nehme es ihr aus der Hand und tippe meine Nummer ein.
«Ich laufe jetzt auf die andere Seite des Platzes», sage ich. «Wenn ich drüben bin, drücken Sie auf die grüne Taste. Und schauen Sie nicht auf Ihr Handy. Nicht, dass es so aussieht, als würden Sie telefonieren. Wenn ich antworte, brechen Sie die Verbindung einfach ab.»
Becki scheint verwirrt, nickt aber, gehorsam aus Angst und dankbar für jede Idee, die ihre Welt wieder in Ordnung bringen könnte. Sie ruft wieder Ronnies Namen, während ich über den Platz spurte. Dass ich einen Anruf erwarte, lasse ich mir nicht anmerken. Evan kann sehr clever sein.
Dreißig Sekunden später klingelt mein Handy. Ich lasse mir einen Moment Zeit, greife dann mit auffälliger Geste in die Tasche, ziehe es hervor und schaue aufs Display. Ich halte das Handy ans Ohr. «Hallo, Liebling.» Meine Stimme klingt nicht natürlich. Aber das versteht sich ja von selbst. Ich bin gestresst, weil mein Sohn nicht zu finden ist.
«Du willst mit Evan sprechen? Ich … ich weiß nicht, wo er steckt, Schatz. Hmmmm. Mal sehen.» Ich nehme das Handy vom Ohr und rufe: «Evan, Chelsea will dich sprechen. Evan, deine Schwester ist am Telefon.»
Ich laufe wieder auf die andere Seite des Spielfeldes zurück und setze meine Show fort, täusche ein Gespräch am Handy vor und rufe Evan zu, dass ihn seine Schwester sprechen will. Becki hat zu suchen aufgehört. Sie steht auf dem Spielplatz und starrt mich an.
Ihr scheint zu dämmern, dass ihre «Freunde» nicht so normal sind, wie sie sich geben. Dass mit uns was nicht in Ordnung ist, etwas, das ihr wehtun könnte.
«Chelsea kann nicht länger warten», rufe ich. «Komm endlich, Evan. Jetzt oder nie. Deine Schwester ist am Apparat.»
Ich will schon aufgeben, als es in einem Busch am Rand des Fußballplatzes zu rascheln anfängt. Evan taucht auf. Er führt Ronnie an der Schulter vor den Busch. Der Kleine weint lautlos, so wie Kinder weinen, wenn sie entsetzliche Angst haben. Er versucht nicht einmal, von Evan wegzukommen, sondern steht wie angewurzelt da. Sein Hemd ist zerrissen, das Gesicht dreckverschmiert und der Haarschopf voller Zweige.
«Chelsea?», fragt Evan.
Ich blicke meinem Sohn in die Augen und halte ihm, ohne zu zögern, das Handy hin. «Chelsea», sage ich mit fester Stimme.
Evan lässt Ronnie los. Der Kleine rennt in die offenen Arme seiner Mutter. Evan kommt auf mich zu und nimmt das Handy. Er hält es ans Ohr und gibt es mir nach einer Sekunde zurück.
«Du hast mich belogen.»
«Warum hast du dich mit Ronnie versteckt?»
«Das war nur ein Trick von dir.»
«Warum hast du dich mit Ronnie versteckt?»
Mein engelhafter Sohn lächelt mich an. «Das verrate ich nie.»
Ich schlage ihn ins Gesicht und nehme am Rand ein Schreien wahr. Becki, denke ich. Aber dann fällt mir auf, dass ich es bin, die schreit.
Becki verzichtet darauf, die Polizei einzuschalten. Vielleicht wär’s besser, sie täte es. Sie hat Ronnie an ihre Brust gedrückt, schnappt sich die Windeltasche, verlässt im Laufschritt den Park. Meine Skizzen flattern ihr aus der Tasche. Sie hat sie nicht gut weggepackt.
Hinweise auf das Leben, das ich einmal geführt habe.
Evan schluchzt und hält sich die gerötete Wange. Meine Ohrfeige hat ihn schockiert und in einen verstörten Achtjährigen verwandelt, der von der eigenen Mutter attackiert worden ist.
Ich sollte mich hassen für das, was ich getan habe. Ich sollte mich schuldig fühlen, fühle aber gar nichts. Nicht das Geringste.
Ich kehre zur Parkbank zurück und packe die Muffins, die Erdbeeren und den Kaffeebecher ein. Dann gehe ich zur Rutsche, sammle Evans Flipflops ein und stecke
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