Die Frucht des Bösen
sie zu den anderen Sachen in meine geblümte Tasche. Evan hat zu weinen aufgehört. Er steht da mit hängenden Schultern, das dünne Gesicht in den Händen, und hickst erbärmlich. Er hat einen Schluckauf.
Ich könnte ihn allein zurücklassen, meine Tasche über die Schulter werfen und einfach gehen, ohne mich noch einmal umzublicken. Irgendjemand würde ihn finden. Ich wäre nicht zu erreichen, und die Behörden müssten sich an seinen Vater wenden. Michael würde ihn bei sich aufnehmen. Evan wäre froh darüber.
Vielleicht könnte ich nach Mexiko gehen. Piña Colada trinken. Meine Füße in den Sand graben. Ich frage mich, wie warm das Wasser zu dieser Jahreszeit da unten ist.
«Mommy», wimmert Evan. «Mommy, ich will nach Hause.»
Also gehen wir nach Hause. Ich verabreiche uns beiden Ativan, damit wir schlafen können.
Später, drei Stunden, vier, sechs? Ich weiß es nicht. Evan sitzt auf der Couch und sieht
SpongeBob
. Ich ziehe mich in die Küche zurück und wähle eine Nummer, die ich eigentlich nicht mehr wählen wollte. Wir sind für eine Weile auf Abstand gegangen. Er braucht Zeit. Im vergangenen Monat ist einiges aus dem Ruder gelaufen. Einmal hat er mir sogar Angst gemacht.
Aber all das zählt jetzt nicht. Weder jener letzte Vorfall noch dieser Blick, der mir einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hat. Auch nicht der fremde, kehlige Klang seiner Stimme, als er sagte, dass er fortmüsse. Geschäftlich. Er würde mich am Montag anrufen. Er hätte eine Überraschung für mich.
Es ist Samstagnachmittag. Noch zwei Tage bis Montag. So lange kann ich nicht warten. Ich brauche ihn. Großer Gott, ich brauche jemanden.
Es klingelt. Einmal, zweimal, dreimal.
Ich will gerade auflegen.
«Hallo?»
Sein Bariton haut mich um. Der Stress, der Terror, die ewige Angst. Nicht, dass mich mein Sohn töten will, aber er ist fixiert darauf, jemandem wehzutun, und ich schaffe es nicht, ihn davon abzubringen. Er wächst, wird größer, stärker und schlauer. Wie lange komme ich noch dagegen an? Was, wenn er sein Spiel gewinnt?
Meine Schockstarre löst sich auf. Ich fange zu heulen an und kann nicht mehr aufhören.
«Ich schaffe es nicht», schluchze ich ins Telefon. «Ich schaffe es einfach nicht mehr. Mir fehlt die Kraft dazu.»
«Schhh, schhh», beruhigt er mich. «Ich helfe dir, Victoria. Das ist doch selbstverständlich. Atme jetzt erst einmal tief durch und dann sag mir, was passiert ist.»
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16 . Kapitel
Andrew Lightfoot wohnte in Rockport, dreißig Autominuten nördlich von Boston. Die malerische Kleinstadt lag etwas erhöht an der Atlantikküste und bot Touristen jede Menge Annehmlichkeiten wie frisches Speiseeis, Saltwater-Toffee und selbstgemachtes Fudge-Konfekt. D. D. hätte liebend gern in Rockport gelebt und würde wohl sofort dorthin ziehen, wenn sie mal einen Sechser im Lotto hätte.
Ihr Navi führte sie zielsicher zu Lightfoots Adresse, die ihr von der Führerscheinstelle genannt worden war. Sie fuhr über eine lange, schmale Ausfahrt und sah plötzlich ein Traumhaus in der vom Wind zerzausten Landschaft. Neben ihr saß Alex, der leise vor sich hin pfiff. Sie beugte sich über das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe.
Andrew Lightfoot besaß eine Villa, einen enorm großen, modernistischen Bau, der mit gläsernen Türmen von den Küstenfelsen über dem weiten graugrünen Meer aufragte.
«Drei bis vier Millionen, locker», schätzte Alex. «Wie viele Aureolen muss man wohl putzen, um sich so was leisten zu können?»
«Keine Ahnung, aber nach dem nächsten größeren Sturm wird von dem Kasten nicht viel übrig sein.»
«Ich kann mir vorstellen, dass Spezialglas verbaut worden ist», kommentierte Alex.
D. D. blieb skeptisch. «Und ich kann mir vorstellen, dass der Architekt vergessen hat, wozu größere Wirbelstürme hier imstande sind.»
Sie parkte den Wagen neben einem Wasserfall, der über dekorative Felsen plätscherte. Daneben stapelten sich in einem Beet aus hübschen Blumen und Ziergras kleinere Bruchsteine, in die japanische Symbole eingraviert waren. Sehr Zen-mäßig, dachte sie und war schon jetzt ein wenig genervt.
D. D. und Alex folgten einem gewundenen Weg und gelangten vor eine übergroße Eingangstür aus Glas und Ahorn, die einen Blick durch das Haus hindurch und auf das Meer dahinter gestattete. Zwei Meter hohe Fenster zu beiden Seiten der Tür erweiterten die beeindruckende Aussicht. Hinter dem Fenster zur Rechten saß ein
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