Die Frucht des Bösen
nicht, dass sie umgezogen sind, und hatten auch nichts mehr mit ihnen zu tun.»
«Das herauszufinden ist nicht schwer», entgegnete Sergeant Warren achselzuckend.
«Aber wieso? Wir helfen Kindern und tun ihnen nicht weh.»
«Sagen Sie das Lucy.»
«Sie können mich mal»,
platzte es aus mir heraus.
«Achtzehn Minuten», schnauzte die Sergeantin. «Unser Sportlehrer hat uns in einem Bruchteil dieser Zeit Wasser gebracht. Erklären Sie mir die achtzehn Minuten.»
«Immer mit der Ruhe», mischte sich Karen ein, ganz die Managerin, die sie war. «Wir sollten erst einmal tief Luft holen.»
«Lucy wäre nie von sich aus in die Radiologie gegangen», insistierte ich. «Und woher hatte sie das Seil?»
«Sie sagten doch selbst, jemand müsse ihr geholfen haben.»
«Aber sie hat niemandem vertraut. Sie hatte große Kontaktschwierigkeiten und konnte kaum sprechen, geschweige denn eine solche Schlinge knoten. Was auch immer geschehen ist, sie hat es nicht selbst getan, es wurde ihr angetan.»
«Von jemandem, dem sie vertraut hat», sagte die Sergeantin und starrte mich an. Dann fiel ihr Blick auf die Filzkugel in meiner Hand.
«So lange war ich nicht weg.»
«Ein verstörtes Kind aufzuknüpfen ist schnell getan.»
«Ich muss Sie wirklich bitten, Sergeant Warren», protestierte Karen.
Ich hörte mich sagen: «Verdammt, ich habe Lucy geliebt.»
«Sie sind von ihr attackiert worden.»
«Das war nichts Persönliches –»
«Sieht aber so aus, als hätte sie Ihnen die Kehle zuschnüren wollen.»
«Kleinere Blessuren bleiben in unserem Job nicht aus.»
«Haben auch Ihre Kollegen blaue Flecken?»
«Sie können sich nicht vorstellen, wie es bei uns zugeht. Wir sind die letzte Verteidigungslinie, die unsere Kinder haben. Wenn wir ihnen nicht helfen können, dann niemand.»
«Wirklich nicht?» Die Stimme der Sergeantin wurde nachdenklich. «Ich erinnere mich. Nach Ihren Worten gibt es für Kinder wie Lucy nur wenig Hoffnung. Zu viele wesentliche Entwicklungsschritte haben nicht stattgefunden. Sie sind verdammt, den Rest ihres Lebens in Heimen zuzubringen. Ich kann mir vorstellen, dass manche denken, für Lucy sei es besser, tot zu sein.»
Karen schnappte nach Luft.
Ich hörte mich schreien: «Halten Sie Ihr Maul.
Halten Sie Ihr verfluchtes Maul!
»
Lucy, tanzend im Mondschein. Lucy, unter der Decke hängend.
Meine Mutter mit einem Einschussloch mitten auf der Stirn.
«Ich kümmere mich darum, Danny. Geh ins Bett. Ich werde mich um alles kümmern.»
«Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl …»
Meine Beine gaben unter mir nach. Meine Wut war letztlich nicht groß genug, um meinen Schmerz auf Abstand zu halten. Lucy, die nie eine Chance hatte. Meine Mutter, die mich nicht gerettet hat, obwohl ich sie so sehr liebte. Natalie und Johnny, mit Engeln aus Stein abserviert.
Blut und Schießpulver. Singen und Schreien. Liebe und Hass.
Am Rand meines Wahrnehmungsfeldes bemerkte ich, dass sich Karen über mich gebeugt hatte und mir riet, meinen Kopf auf ihre Knie zu legen. Dann hörte ich ihre Stimme lauter. Sie sprach mit der Sergeantin.
«Sie dürfen sie nicht so unter Druck setzen. Nicht so kurz vor dem Jahrestag der Tragödie ihrer Familie.»
Greg klang verärgert, als er fragte: «Wollen Sie sie etwa festnehmen?»
«Sollte ich das?»
«Sie sollten jetzt gehen», sagte Karen. «Sie haben hier genug Schaden angerichtet.»
«Zwei über diese Station miteinander verbundene Familien sind ausgelöscht, und eine Ihrer Patientinnen wurde soeben tot aufgefunden. Ich fürchte, auf Sie wird noch einiges zukommen.»
«Lassen Sie das unsere Sorge sein», blaffte Greg.
Greg und Karen bauten sich vor mir auf. Meine zweite Familie, der ich womöglich ebenso wenig gerecht werden würde wie meiner ersten. Ich drückte die Augen zu und wünschte, der ganze Spuk würde sich in Wohlgefallen auflösen.
Als hätte die Sergeantin meine Gedanken gelesen, sagte sie: «Morgen um dieselbe Zeit werde ich über jeden Einzelnen hier auf der Station genauestens informiert sein. Sie werden sich an meine charmante Art noch gewöhnen.»
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24 . Kapitel
D. D. und ihr Team verließen die Station kurz nach fünf. Sie waren nun schon seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. In Anbetracht der Situation am Tatort und der vielen Zeugen, die zu befragen sein würden, mussten sie sich auf einen weiteren überaus anstrengenden Arbeitstag gefasst machen.
Als erfahrener Tatortanalytiker hatte sich Alex bereits in
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