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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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streichelte ihm im Vorübergehen den Arm – Laure gewährte ihm nicht ein Zehntel solcher Dinge –, aber so war sie nun mal, Marlène Aramentis, darum brauchte man kein großes Trara zu machen – und noch etwas: Nie hatte Marlène geglaubt, daß er in irgendeiner Weise an Lisas Tod schuld sei, nie hatte sie ihm das aufgebürdet.
    »Laß mich nicht allein. Bleib noch eine Weile bei mir«, stammelte sie.
    »Aber sicher.«
    »Laß mich nicht in diesem tiefen schwarzen Loch sitzen.«
    Sie tupfte sich die Augen ab. Sie drückte ihn an sich, als gingen sie am Rand eines Abgrunds entlang, während er sie mit langsamen Schritten zu ihrem Bett führte. Das Zimmer lag zwar nicht im Dunkeln, aber die Nachttischlampe war mit einem Schleier abgeschirmt, der den Raum in ein angenehmes Halbdunkel tauchte.
    »Vor allem wenn man so rote, verquollene Augen hat wie ich«, erklärte sie. »Ich muß gräßlich aussehen.«
    Sie sah ganz und gar nicht gräßlich aus. Sie besaß wohl nicht den mysteriösen Liebreiz von Laure und auch nicht die strahlende Schönheit von Alexandra Storer, die beide plaudernd unter dem Fenster standen und sich ein kleines Kaschmirjäckchen über die Schultern gelegt hatten. Aber sie hatte sehr ebenmäßige Züge, einen klaren Blick und eine schmale Figur voller Rundungen. Sie war anmutig und nicht zu alt. Er ging nicht auf die andere Straßenseite, wenn er ihr begegnete.
    »Du sagst ja gar nichts. Ist es so schlimm? Es wird wohl mindestens drei Tage dauern, bis ich mich wieder auf die Straße trauen kann.«
    Sie kicherte. Sie machte sich gern über sich selbst lustig. Er führte sie bis ans Bett – wobei er die Zähne zusammenbiß, denn sie war nicht ganz leicht, und zugleich mußte er gegen die lähmende Wirkung des Lexomils ankämpfen –, das ein ganzes Heer hätte aufnehmen können, und dann holten sie beide tief Luft. Sie ließen sich nebeneinander auf die Matratze fallen und starrten an die Decke.
    »Wie kann er mir das antun. Wie kann er das nur wagen«, seufzte sie. »Weißt du, sie kennen keine Grenzen. Ich meine die Typen, die nur da sind, um uns Leid zuzufügen.«
    Er nickte. Er begriff in etwa, wovon sie sprach. Dieses Mal unterließ sie es, ihren Rock glattzuziehen, aber das war kein Problem: Marlène war total durcheinander und er völlig kaputt. Hinter ihnen tanzte der Vorhang, und der Geruch nach schwarzer Erde drang ins Zimmer.
    Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Erklärte, daß sie auf dem laufenden sei, was Richard angehe.
    »Ich weiß nicht, ob mich das wirklich kratzt«, murmelte er. »Mir ist fast lieber, er bleibt dort, wo er ist.«
    »Dein Vater hat ein wahnsinniges Bedürfnis nach Anerkennung. Das wissen wir alle. So ist das eben. Aber trotzdem, dieses Mädchen ist ein bißchen seltsam.«
    Inzwischen brauchte man Gaby Gurlitch in seinem Beisein nur zu erwähnen, und schon ließ er sich von ihr überwältigen. Dann stürzte ein leuchtend weißes Meer über ihn herein und verschlang ihn. Er schluckte mit Mühe – eine leicht unangenehme Nebenwirkung.
    »Ich habe oft an dich gedacht«, fuhr sie fort. »Ich habe mich gefragt, ob es dir gelingen würde, mit der Sache fertig zu werden, denn ich persönlich habe geglaubt, daß das nicht möglich ist. Das ist kaum zu schaffen. Aber du scheinst ja gut damit fertig zu werden. Ganz ehrlich, ich bin völlig verblüfft. Ihr seid wirklich eine erstaunliche Generation. Ich sollte mir vielleicht an dir ein Beispiel nehmen, meinst du nicht?«
    Eine seltsame Situation: Er lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und hatte den Eindruck, ein angeregtes Gespräch mit Marlène Aramentis zu führen, dabei bewegte er die Lippen gar nicht, und aus seiner Kehle drang kein Laut. Sie richtete sich halb auf und blickte ihn, auf den Ellbogen gestützt, mit einem Lächeln fragend an. Er konnte gut verstehen, daß sein hartnäckiges Schweigen und das Fehlen jeder Reaktion sie ziemlich verwirrten, aber was soll’s, dagegen konnte er beim besten Willen nichts tun.
    Sie behauptete, ihr sei kalt, und rollte sich an seiner Seite zusammen. Sie bibberte mit den Zähnen, dabei waren ihre Wangen gerötet. Sie nahm seine Hand und küßte sie.
    Warum das? Er hatte keine Ahnung, er wußte nur, daß jemand, dem eine Verletzung zugefügt worden ist, nicht immer vernünftig handelt, und daher konnte sie ihm die Hand küssen, soviel sie wollte, das störte ihn überhaupt nicht.
    Und ihn auf den Arm küssen, und ihn auf die Schulter küssen, und ihn

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