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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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war.
    Er war in einem Zustand, in dem sich Laures Probleme schnell am Horizont verloren und so winzig wurden, daß man ein Fernrohr brauchte, um sie zu sehen. Er zündete sich eine Zigarette an und schob sie für eine Weile Andreas zwischen die Lippen, dessen Nase jetzt kräftig über den Boden scheuerte, so daß sein Gesicht einer soeben gegen einen Betonpfeiler geprallten Medusa glich. Er fragte sich, wo die Dicke nur mit ihrer Cola blieb. Am anderen Ende des Balkons wehte ein ockerfarbener Vorhang aus einem der Zimmer und flatterte im Wind. Ab und zu zog eine niedrige Wolke vor den Mond.
    »Eins kapierst du einfach nicht«, erklärte er nach hinten gewandt, »du begreifst nicht, daß es überhaupt nicht um Sex geht. Das will dir nicht in den Kopf, stimmt’s? Es geht nicht um Sex, und daher verstehst du überhaupt nichts mehr, da bist du völlig neben der Spur.«
    Man brauche nur einen Blick nach unten zu werfen, um die Wege zu sehen, die man besser nicht einschlug. Es wimmele an Beispielen, aber es sei, als müsse man sich Kopf voran von einer Felswand stürzen, als gebe es keine Alternative. Auf jeden Fall bringe es nichts, ein Mädchen zu bumsen, bis die Fetzen flogen. Sich zu so etwas zu erniedrigen sei bestimmt nicht die Lösung.
    »Ich hab es dir schon gesagt: Vögeln kann jeder. Das verleiht uns keine wirkliche Größe. Damit heben wir uns nicht von den anderen ab.«
    Manchmal hatte er den Eindruck, in die Leere zu stürzen oder in Schlagsahne zu versinken. Wenn er die Augen wieder öffnete, funkelten die Sterne, die Nachtvögel erhoben sich von den Wipfeln und flogen in gerader Linie durch die Luft, und hinten am anderen Ende des Balkons bauschte sich der Vorhang, wogte in sanften Sinuskurven, und als er später wieder einmal den Kopf wandte, sah er Marlène Aramentis, die zu Boden sank.
    Verflixt! Er sprang mit einem Satz auf. Sie fiel der Länge nach hin.
    Um zu sehen, was los war, ging er auf sie zu, beugte sich über sie und sagte: »Madame Aramentis? Hallo, hallo!« Sie blinzelte mit den Augen. »Madame Aramentis, ist alles in Ordnung?«
    Er selbst hielt sich an den Knien fest, um nicht umzukippen. Um diese nächtliche Stunde war eine gewisse Grenze überschritten. Nur ganz wenige waren noch in einem normalen Zustand – es gab Leute, die über den Rasen rannten, endlos im Swimmingpool hin und her schwammen, sich an niedrige Äste hängten, literweise Champagner tranken, im Wohnzimmer die Hüften schwangen, sich in einem Winkel mutig gegenseitig an den Arsch faßten und sich sogar abknutschten.
    Plötzlich packte sie ihn am Handgelenk. In der anderen Hand hielt sie ein Taschentuch, das sie zu einer Kugel zusammengeknüllt hatte.
    »Bist du’s, Evy?« flüsterte sie. »Gott sei Dank, daß du es bist. Das ist aber lieb von dir, daß du mir zu Hilfe kommst. Du bist so ein lieber Junge.«
    Er lächelte ihr zu. »Haben Sie sich weh getan?«
    Sie glaube nicht, aber sie fühle sich ganz schwach. Dann zog sie ihren Rock glatt.
    »Weißt du, plötzlich war mir schwarz vor den Augen. Die Beine haben mich im Stich gelassen. Herrgott! – aber ich will dich damit nicht langweilen. Du hast selbst genug um die Ohren. Oh, là, là, wir bilden ein schönes Team von Krüppeln, wir beide.«
    Ihm war es lieber, wenn er sie scherzen hörte. Er fürchtete sich vor allem vor einem Tränenausbruch, dem er nicht entkommen konnte, oder einem Nervenzusammenbruch, den er auf die eine oder andere Weise in den Griff kriegen mußte.
    Er half ihr auf. Er schätzte, daß er noch über etwa vierzig Prozent seines körperlichen und geistigen Leistungsvermögens verfügte. Er stellte sie wieder auf die Beine und hielt plötzlich eine Stoffpuppe in den Armen. »He! Halten Sie sich an mir fest!« befahl er ihr. In einem Moment der Schwäche warf sie ihm die Arme um den Hals. Er hielt sie fest umschlungen und verhinderte so, daß sie wieder zu Boden sank. Sie sahen aus, als tanzten sie nach einem Trip in einer Opiumhöhle noch einen letzten Slow im Morgengrauen.
    Im Unterschied zu seiner Beziehung zu Judith Beverini, die er nicht ausstehen konnte – für sie hätte er keinen Finger gerührt, denn er sah sie als den bösen Geist seiner Mutter an, als diejenige, die Laure in Sachen Sex ein schlechtes Beispiel gab –, war die zu Marlène durchaus okay. Sie ließ es zwar an körperlichen Kontakten mit ihm nicht fehlen, an mütterlichen Umarmungen, war stets rührend um ihn besorgt, verfolgte ihn manchmal mit zärtlichen Blicken oder

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