Die Frühreifen (German Edition)
nur für ihn gebaut, Herrgott !«
»Sind die Sicherungen durchgebrannt?«
»Nein. Die Sicherungen sind nicht durchgebrannt. Zumindest glaube ich das nicht. Weißt du, die Sache ist leider etwas ernster.«
Evy nickte, machte kehrt und setzte sich an die Bar. Er hörte Doll Parts von Courtney Love und und starrte auf das Curryhühnchen, das er in der Mikrowelle aufgewärmt hatte, als André neben ihm auftauchte und sagte: »Hör zu, ich möchte dir helfen. Kann ich etwas für dich tun?«
»Mir helfen? Warum? Wobei helfen?«
»Ich weiß nicht. Dir helfen. Irgend etwas tun, damit dir das Leben, was weiß ich, aufregender erscheint oder so was. Eben dir helfen. Denn das ist ja meine Rolle. Schließlich sind wir durch Blutsbande vereint, mein Junge.«
»Also danke. Aber es ist alles okay, ich brauche nichts.«
»Das habe ich noch nie gesehen, jemand, der nichts braucht. Ich glaube, das gibt es nicht. Ich frage mich wirklich, was ihr nur habt, dein Vater und du. Ist das denn so schwer, die hilfreiche Hand zu ergreifen, die man euch entgegenstreckt? Ist das so unerträglich?«
Ratlos und zögernd bewegte Evy seine Gabel über seinem Teller hin und her, spießte dann ein Stück Hähnchen auf, schob es in den Mund und kaute ohne Eile, wobei er geradeaus auf einen Punkt starrte, und zwar auf einen kleinen Magnetsticker auf der Kühlschranktür, der ein Detail aus der Decke der Sixtinischen Kapelle darstellte.
»Vergiß nicht, daß du nicht allein bist. Stell dich nicht so dumm an wie Richard, ich bitte dich. Es kann gut sein – aber nur du kannst das beurteilen –, daß die Atmosphäre hier in diesem Haus für einen Jungen in deiner Situation unangenehm wird. Ich will dir nicht verheimlichen, daß mir deine Mutter ziemliche Sorgen macht – ich brauche dir wohl nicht zu erklären, denn das weißt du selbst, daß es nicht einfach ist, mit jemandem zusammenzuleben, der neurotisch ist. Warum ich dir all das erzähle? Nur um dir eines zu sagen: Halt dich nicht für Superman. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, ruf mich an, dann nehme ich das nächste Flugzeug und komme her. Hast du mich verstanden? Halt dich nicht für Superman. Schließlich leben wir nicht in einem dieser rückständigen Länder, wo sich die Leute gegenseitig umbringen, als sei das ein Klacks, und wo sie nichts vom Lebensschmerz verstehen und davon, ob man sich in seiner Haut wohl fühlt oder nicht, und was es heißt, eine Krise durchzumachen, sondern in einem zivilisierten Land mit Lösungen für solche Dinge und mit allem, was man braucht, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden. Hast du mich verstanden?… Kannst du mit dem Kopf nicken, um mir zu zeigen, daß du verstanden hast?«
Evy nickte mit dem Kopf. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und dachte daran, daß Anaïs sich wohl gleich auf den Weg machen würde.
»Ich habe mich gefragt…«, fuhr André fort, »ich habe mich gefragt, ob du nicht eine gewisse Zeit mit deiner Großmutter und mir verbringen möchtest, um etwas Abstand zu gewinnen, meine ich. Sagen wir mal bis Neujahr, und danach sehen wir weiter… Was hältst du davon?«
»Oje! Das muß ich mir erst noch überlegen. Aber ich fühle mich nicht krank.«
»Du fühlst dich nicht krank, aber wenn ich nicht da wäre, säßest du jetzt in einem leeren Haus. Und in ein paar Tagen ist das der Fall. Findest du das normal? In dieser schmerzlichen Einsamkeit? Glaubst du, das ist gut für dich? Ich bin auf jeden Fall vom Gegenteil überzeugt. Ich bin überzeugt, daß du bei deiner Großmutter und mir besser aufgehoben wärst.«
Draußen war der Schrei der Eule im Wind zu hören. Evy wartete auf eine Nachricht aus der Stadt und interessierte sich daher absolut nicht für das, was der Alte sagte, das war unmöglich, denn wenn dieser Abend stattfinden sollte, wenn Anaïs die nötigen Informationen bekam, dann würde etwas passieren, dann würde etwas Wichtiges passieren.
Früh am nächsten Morgen trank Evy eine große Schale schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette, während der Tag allmählich anbrach. Tau lag in feinen Tropfen auf den Blättern, im Tal waren Nebelschwaden zu sehen, an den Ästen und unter dem Farnkraut hingen goldfarbene Fäden, und auf der anderen Seite bestäubte Georges Croze wie ein Gespenst am Rand des Swimmingpools seinen Körper mit so viel weißem Puder, daß er um ihn herumwirbelte.
Evy wurde erneut jäh aus dem Schlaf gerissen, aber es war nicht mehr die Szene auf dem See – diese Szene,
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