Die Frühreifen (German Edition)
die irgendwo in seinem Gedächtnis vergraben und viel zu überbelichtet und zu verschwommen war, um wirklich erkennen zu lassen, was dort geschah – nicht mehr die Szene auf dem See riß ihn jetzt aus dem Schlaf, sondern eine andere, in der Gaby aus dem Wasser gefischt und auf elende Weise ins Schlauchboot der Polizei gehievt wurde.
In einem Punkt hatte sein Großvater recht: Es war niemand mehr in diesem Haus. Abgesehen vom Kühlschrank, dessen Kompressor sich ab und zu leise in Gang setzte, vernahm man nur noch die Stille, die von allen Seiten herabrieselte, und das einzig Lebendige waren die Schnittblumen, die eine unsichtbare Hand in die Vasen stellte – er war nie da, wenn der Typ von Fujiflora auftauchte.
Er fühlte sich wie ein Boxer am Tag vor einem großen Kampf: angespannt, konzentriert, unruhig, ungeduldig.
Seine Mutter war spät nach Hause gekommen, und sein Großvater, der nachts keinen Schlaf mehr fand, stand nicht mehr in aller Frühe auf. Auf dem niedrigen Tisch standen ein paar leere Gläser, und sie hatte unten vor der Treppe einen Schuh verloren – eines von den Dingen, die sie mit Küssen bedecken oder wie ein kleines Haustier streicheln konnte. Vielleicht hatte sie tatsächlich nicht wieder angefangen zu trinken, sondern nur ausnahmsweise die Unterzeichnung ihres neuen Vertrags mit der MediaMax gefeiert, die sich so gut um ihre Schauspielerinnen kümmerte, vor allem um jene, die eine gewisse Lebenserfahrung hatten. Er hatte lange, bis spät in die Nacht, mit Anaïs diskutiert, hatte das Gelächter und die Freudenrufe gehört, während ein Lichtstrahl unter der Zimmertür seines Großvaters zu sehen war, den dieses Verhalten vermutlich schockierte und der nicht fähig war, auch nur eine Zeile aus einem der Romane von Graham Greene zu lesen, für die er normalerweise eine Vorliebe hatte.
Schließlich hielt der Subaru vor dem Eingang. Anaïs hatte Lust, noch etwas zu essen, bevor sie sich auf den Weg machten. Sie hatte sich den Wetterbericht angesehen und war einigermaßen optimistisch.
»Ich muß vor zwölf wieder zu Hause sein«, erklärte sie. »Mein Vater hat für mich einen Termin beim Zahnarzt abgemacht.« Sie öffnete den Mund, um Evy zu zeigen, worum es ging, aber er wich angewidert zurück. Während er Eier in die Pfanne schlug, betrachtete sie die Fotos von Laure, die an der Wand hingen. Sie konnte sich gar nicht satt daran sehen. Laure am Arm von Al Pacino. Laure mit Lars von Trier. Mit Kerry Fox, James Cameron, Madonna und wie sie alle hießen. Laure auf der Terrasse des Gritti oder in der Colombe d’Or oder in einem Zimmer, das auf den Central Park hinausging. Sie hatte diese Fotos schon mindestens hundertmal betrachtet, aber sie empfand dabei noch immer das gleiche Vergnügen.
»Ich bleibe ein Stück zurück«, erklärte sie, während sie ihre Eier mit Toastscheiben aß, die sie gewissenhaft mit Butter bestrich und immer paarweise verschlang. »Ich will damit nichts zu tun haben. Ich mache in der Zeit einen Spaziergang oder eine Spritztour, mach dir keine Sorgen um mich. Wir müssen nur vor zwölf wieder zurück sein.«
Richards Adresse herauszufinden war nicht sehr schwer gewesen. Dank der Hilfe von Olivier Von Dutch, der ab und zu gern mal fixte – aus diesem Grund gab ihm sein Vater schon seit langem kein Taschengeld mehr und zwang ihn, ohne ihn vorzuwarnen, in ein Reagenzglas zu pinkeln –, wußten sie jetzt genau, wo Richard sich verbarg, und hatten sein Versteck auf einer Karte im Maßstab 1: 25 000 eindeutig ausgemacht.
Anaïs sagte zu ihm: »Du kannst ihm nicht alles in die Schuhe schieben, das geht nicht. Schließlich hat er sie nicht gekidnappt. Verdammte Scheiße, sei nicht so ungerecht!«
»Fährst du mich jetzt hin oder nicht?«
»Natürlich fahre ich dich hin. Das hab ich dir doch gesagt. Du weißt genau, daß du dich auf mich verlassen kannst. Ich fahre dich hin. Aber sie ist deinem Vater aus freien Stücken gefolgt, hörst du, das tut mir leid, aber so ist das. Sie ist ihm freiwillig gefolgt. Das kannst du drehen und wenden, wie du willst.«
»Genau das tu ich ja. Und das solltest du auch tun. Du brauchst dich nicht unbedingt so blöd zu stellen, weißt du. Niemand zwingt dich, so begriffsstutzig zu sein.«
Sie hatte beschlossen, die schlechte Laune des Jungen nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Seit der Sache mit Marlène Aramentis – eine allerdings in so mancher Hinsicht ziemlich miese Geschichte, das fand sie auch – war er, wenn auch
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