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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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vielleicht nicht endgültig, bestimmt aber für lange Zeit unerträglich geworden. Er gab sich immer unfreundlicher und betrachtete die Leute und die Dinge mit harten Augen.
    Aber was soll’s, das war der Preis, den Anaïs zu zahlen hatte, und sie handelte ihn nicht herunter. Alles schien ihr besser zu sein als diese eisigen, düsteren, unterirdischen Gänge, diese grauenhaften Stollen, durch die sie in diesen schrecklichen Monaten ganz allein geirrt war wie eine hilflose arme Seele, so verletzt, gepeinigt und verunsichert, daß sie fast verrückt geworden wäre – bis sie schließlich wieder in Evys Augen Gnade gefunden hatte. All das würde sie nicht so schnell vergessen. Wenn Evy es vorzog, den Fehler ausschließlich bei seinem Vater zu suchen, und Gaby für unschuldig hielt, warum sollte sie ihm dann widersprechen? Wenn er meinte, daß das arme Schätzchen in den zwei, drei Tagen, die sie mit Richard verbracht hatte, untätig geblieben war und nicht mit einem Seufzer oder in Gedanken woanders die Schenkel gespreizt hatte, warum sollte sie dann päpstlicher als der Papst sein? Warum sollte sie jemandem, der nicht hören wollte, laut etwas in die Ohren brüllen?
    Unterdessen hatte sie die Bestätigung erhalten, daß Dany am selben Abend sein kleines Treffen veranstaltete, und ihr war auch nicht der anerkennende Blick entgangen, den Evy ihr nach diesem erstklassigen Hinweis geschenkt hatte, einen Blick, dessen wohltuende Wirkung sie noch immer spürte, während sie das Rührei aufaß, das er ihr netterweise zubereitet hatte – sie liebte es, wenn er sich um sie kümmerte, sie liebte das über alle Maßen, sie hatte es derart geliebt, als Lisa ihr eines Tages die Nägel lackiert hatte, was für eine wunderbare, phantastische, einmalige, unauslöschliche Erinnerung, aber so weit war sie mit ihm noch nicht.
    Sie bedauerte es jedoch, daß Gina noch nicht da war, die ihr eventuell ein paar Crêpes hätte zubereiten können, die sie mit Ahornsirup oder noch besser mit einem Schuß Aunt Jemima begossen hätte, den Laure direkt im Internet bestellte, direkt bei den Yankees.
    Andererseits schmerzte ihr Zahn ein wenig, und sie stellte sich vor, wie er im Zucker schwamm, in einem bernsteinfarbenen Zuckerbad, und das wiederum begeisterte sie nicht gerade.
    Es war sieben Uhr morgens. Sie beobachtete einen Fuchs, der hechelnd neben der Hecke saß. Der Gedanke, in einen Familienstreit verwickelt zu werden, gefiel ihr nicht sonderlich, aber sobald sich ihr die geringste Gelegenheit bot, Evy näherzukommen, die geringste Möglichkeit, irgend etwas mit ihm zu teilen, ergriff sie diese fest entschlossen und ohne zu zögern – wie eine Biene im Sturzflug –, selbst wenn sie dabei gestochen wurde, selbst wenn fast nichts für sie dabei heraussprang.
    Sie hatte die leeren Bierdosen, die Gratiszeitungen, die Käsegebäckpackungen aus dem Subaru geholt und den Ölstand überprüft. Sie selbst fühlte sich in einer Geistesverfassung, die der Evys ziemlich nahe kam.
    »Was nicht heißen soll, daß ich ihm recht gebe«, sagte sie nach einer Weile.
    »Na, das freut mich aber. Toll. Dann bin ich ja beruhigt.«
    Daraufhin legte sie den ersten Gang ein, und sie fuhren unter einem in Regenbogenfarben schillernden Himmel nach Norden.
    Richard hatte sich jenseits des Seengebiets in einem Winkel verkrochen, in dem nur noch Menschen wohnten, die auf der Flucht waren, Leprakranke oder ausgeflippte Schriftsteller, so weit war diese Gegend vom Rest der Welt entfernt, so tief war die Einsamkeit, die dort herrschte. Nur wenige Leute wagten sich dorthin vor. Und daher konnte man dort im erstbesten Maklerbüro für eine Handvoll Euro eine Ferienwohnung mieten, ein halb verfallenes Haus ohne Nachbarn und ohne Zentralheizung, in einer Landschaft mit kahlen Bergen, knapp zwei Stunden mit dem Auto von der realen Welt entfernt.
    Sie hörten Musik, Big Black, Cocorosie. Sie sprachen kaum. Die Wälder, die sie durchquerten, waren manchmal in herrlichen Farben gesprenkelt, aber zugleich in jämmerlichem Zustand, vom sauren Regen gelichtet, von den Raupen des Prozessionsspinners befallen oder durch Brände zerstört, und all das war ziemlich trostlos, ja sogar recht entmutigend.
    Er schloß die Augen. Er hatte den Eindruck, daß seine Beine oder sagen wir die untere Hälfte seines Körpers in Beton gegossen war, daß er seine Bewegungsfreiheit verloren hatte und auf die eine oder andere Weise an eine Daseinsform gekettet war, die ihn anwiderte. Das war

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