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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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aufblähte und ein paar Hüte in Gefahr brachte.
    Evy vergoß zwar keine Tränen, aber man konnte nicht von ihm behaupten, er habe bei der Beerdigung von Patrick, dessen Seele vielleicht noch nahe war, nicht genug Pietät gezeigt, um bis zum Ende dazubleiben.
    Er warf einen Blick hinter sich auf Anaïs, die eine völlig angemessene düstere Miene machte. Die Familie Delacosta war vollständig erschienen, umgeben von den Lehrern von Brillantmont, die überzeugt waren, sie hätten jeder ein Vermögen für den Kranz des Gymnasiums ausgegeben. An diesem heißen Vormittag mußten sie jedoch verärgert feststellen, wie lächerlich klein der ihre im Vergleich zu den riesigen Kränzen war, die von den Bewohnern des Hügels stammten.
    Richard, der als Schriftsteller nicht mehr so vergöttert wurde wie in seinen jungen Jahren – der Typ mit den phantastischen Vorschüssen und hohen Spesenrechnungen –, erfaßte nicht mit der gleichen Schärfe wie früher, was vor sich ging. Die Kluft wurde allmählich spürbar. Und so streckte er die Hand aus und legte sie seinem Sohn gemessen und würdevoll, was jedoch völlig lächerlich wirkte, auf die Schulter. Evy fragte sich, ob Laure und er sich abgesprochen oder ob sie einen neuen Guru gefunden hatten.
    Wie dem auch sei, Richard hatte jedenfalls feuchte Augen bekommen. Evy dachte, daß sein Vater wohl drei Tage brauche, um sich davon zu erholen, aber mehr auch nicht. Laure dagegen konnte es sich nicht leisten, ihre Chancen für diese Rolle aufs Spiel zu setzen – sonst würde sie daran zugrunde gehen, was man ihr, wie sie hoffte, ansehen konnte –, indem sie sich auf etwas anderes konzentrierte als auf diese Probeaufnahmen, von denen der Vertragsabschluß abhing – und daher waren Melancholie, Schmerz und Streß etwas, was sie absolut vermeiden mußte.
    Aber die Feier nahm sie dennoch ziemlich mit. Fast alle Erwachsenen sahen mitgenommen aus und waren es auch.
    Trotz der offiziellen Version wußte jeder, was los war, und die Eltern versuchten verzweifelt, sich ihre Jugend wieder ins Gedächtnis zu rufen, um klarer zu sehen und herauszufinden, ob auch sie in jenem Alter Selbstmordgedanken gehabt hatten, doch die Antwort war im allgemeinen nein, obwohl ihnen zufolge das Leben damals viel schwieriger gewesen war als heute, viel strenger und härter als heute, und diese Feststellung verblüffte so manchen.
    Man nahm es Alexandra ein wenig übel – so wie man es den Trendels übelgenommen hatte –, daß sie die Tür zur Tragödie einen Spaltbreit aufgestoßen und die Unordnung mit ihren schädlichen Dünsten und ihren bleichen Horden der Schuldgefühle und Versagensängste hereingelassen hatte, wenn auch nur für einen Vormittag – mit letzter Anstrengung hatte Laure nach dem Tod ihrer Tochter Skelette in die Bäume rings ums Haus gehängt, mexikanische Puppen, die sie von einem Filmdreh mitgebracht hatte, all das sollte die Antwort auf ihren Schmerz darstellen, sollte zeigen, daß sie ihn akzeptierte, aber eines schönen Abends war Richard schließlich nach draußen gerannt und hatte sie alle abgerissen, obwohl er sich kaum aufrecht halten konnte und zwanzig Meter gegen den Wind nach Alkohol stank.
    Ein Mädchen aus der dreizehnten Klasse fiel in Ohnmacht, als die erste Handvoll Erde auf den Sarg geworfen wurde, zwei andere griffen ihr unter die Arme, und die Hälfte der Schüler aus Brillantmont glaubte, daß die Sache nur gespielt, reines Theater war. Ein Schüler aus der siebten Klasse, der zu nah ans Grab getreten war, konnte sich gerade noch am Ärmel eines kleinen Rotschopfs festhalten, der das Gesicht verzog. Auf jeden Fall trugen viele von ihnen eine Badehose unter ihrer Kleidung, und allmählich breitete sich Ungeduld unter ihnen aus. Dann schritt das Mädchen, das ohnmächtig geworden war, ungelenk auf eine Bank zu, die im Schatten von dichten Tamarisken stand.
    Evy bemerkte nach einer Weile, daß sie ihn anstarrte. Er kannte sie gut. Sie hieß Gaby Gurlitch. Ein flottes Mädchen, diese Gaby Gurlitch.
    »Dieses Mädchen blickt dich unentwegt an. Wie heißt sie noch?« sagte Richard mit einem leichten Lächeln.
    Genau das hatte Evy damit gemeint, als er sagte, daß der Trübsinn seines Vaters nicht länger als drei Tage dauern würde. Und so etwas mußte er sich anhören, während das Grab eines Typen zugeschaufelt wurde, der noch nicht mal zwanzig war. Ganz zu schweigen davon, daß Evy es ganz besonders haßte, wenn sein Vater ihm mit so was kam. Richard war der

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