Die Frühreifen (German Edition)
und dort war ein Schrei zu hören oder ein Plumps von einem bemoosten Felsen, der als natürliches Sprungbrett diente.
Sie blickte ihm fest in die Augen, ohne zu verbergen, daß sie etwas darin zu entdecken hoffte. Es war nicht leicht, die Ruhe zu bewahren, wenn man spürte, wie ein Mädchen wie Gaby mit aller Kraft versuchte, in sein Hirn vorzudringen. Andreas war ins Wasser gesprungen, nachdem der Anblick eines Mädchens, das sich die Brustspitzen mit Sonnenöl einrieb, bei ihm eine Erektion ausgelöst hatte, und was die anderen betraf, so pißte einer in der Ferne gegen einen Baum, ein anderer beschwerte mit ein paar Steinen eine Packung Bierdosen im Wasser, ein Mädchen ging mit wackelnden Hüften ins Wasser, ein anderes sagte Scheiße!, als sie feststellte, daß sie ihre Tage bekam, und lief zu den Autos, so daß die beiden schließlich allein waren. Er hatte ein tête-à-tête mit diesem Mädchen, mit dieser unberührbaren Göttin. Das war für ihn eine wirklich interessante Situation, die gefährlich und zugleich verdammt aufregend war.
»Und du«, sagte er und blickte auf, »interessiert es dich zu hören, was ich in Patricks Sachen gefunden habe?«
Das interessierte sie sehr. Das sah man ihr an, ohne daß sie ein Wort zu sagen brauchte. Ihre Augen glitzerten wie Achate. Evy war sich deren Farbe nie sicher gewesen, er hatte zwischen blaßblau und perlgrau geschwankt, aber am heutigen Nachmittag, am Tag von Patricks Beerdigung, am Tag dieses unverhofften tête-à-tête, einem Tag mit vollkommenem Licht, entdeckte er, daß sie beides zugleich waren, und dachte allmächtiger Gott. Dann versuchte er sie zu betrachten und sich zu sagen, dieses Mädchen hat monatelang den Typen und das Bett mit meiner Schwester geteilt, aber das änderte gar nichts und hatte nie etwas geändert. So seltsam sich das auch anhören mag.
»Und was hat es damit auf sich?«
Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und blies ihm sanft den Rauch um die Nase. Man hatte Mühe, sich vorzustellen, daß dieses Mädchen fast zusammengeklappt war, als sie eine Blume auf den Sarg werfen wollte. Das war im Grunde das Faszinierendste an den Mädchen: Sie konnten unendlich viele Rollen spielen und wie selbstverständlich von einer in die andere schlüpfen.
Sie verabredeten sich für elf Uhr.
Aber erst mal wollte sie ein Mittagsschläfchen halten. Sie erklärte, dieser Tag habe sie erschöpft, und rollte sich auf den Bauch.
Evy war so lange regungslos auf die Arme gestützt sitzen geblieben, daß seine Handgelenke noch eine Weile steif waren. Tannennadeln und Kieselsteine hatten tiefe Spuren in seinen Handflächen hinterlassen.
Als er den Kopf hob, entdeckte er Anaïs auf der sonnigen Lichtung, auf der die Autos parkten. Sie thronte mit ihrem ganzen Gewicht auf einem Mini-Cooper wie ein aus Granit gemeißelter Buddha. Trotz der Entfernung, trotz des Laubs und der niedrigen Äste starrte sie Evy unverwandt mit düsterem, durchdringendem Blick an. Dabei sah man sie sonst nur selten in der Nähe von Wasserflächen herumstreichen, genausowenig wie an anderen Orten, wo man sich im Badeanzug präsentierte.
Was zum Teufel hatte sie hier zu suchen? Sie schnüffelte ihnen mal wieder nach. Nichts anderes. Er wußte, wie gern sie ihre Nase in alles Erdenkliche steckte, kannte ihre Tricks und das Talent, das sie bei ihren Spionageübungen entwickelte. Das war ihr zur zweiten Natur geworden. Alles, was sich in Brillantmont oder auf dem Hügel abspielte, kam ihr auf die eine oder andere Weise zu Ohren.
»Kümmer dich nicht um sie«, sagte Gaby, ohne auch nur die Augen zu öffnen. »Du bist ihr keine Rechenschaft schuldig.«
Er wandte den Blick wieder in Richtung der Lichtung, aber Anaïs war verschwunden.
»Ich habe nie verstanden, wie es kam, daß Lisa einen Narren an ihr gefressen hat«, seufzte Gaby. »Weder ich noch Patrick noch sonst jemand, den ich kenne. Ein echtes Rätsel.«
Laure war richtig erschrocken, als sie ihr Gesicht im Spiegel sah. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie sich zu Tränen hatte hinreißen lassen. Sie war auch auf Richard sauer, der so lange am Ausgang des Friedhofs getrödelt und sie in den Armen von Alexandra zurückgelassen hatte – die in einem Anfall von geistiger Umnachtung mit schluchzender Stimme von ihren Mißerfolgen, ihrer künftigen unendlichen Einsamkeit und dem öden, leblosen Weg phantasierte, den ihr das grausame Schicksal vorbehielt. Hatte sie genug Zeit, um den Schaden zu beheben? Es wurde schon
Weitere Kostenlose Bücher