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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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dunkel, von den Wäldern drang noch ein feuerroter Schein herüber, während sich der Himmel purpurn färbte, was bedeutete, daß sie keine Ewigkeit mehr vor sich hatte, sondern nur noch eine knappe Stunde. Das war nicht aufzuholen.
    »Du brauchst ihnen doch nur zu sagen, daß sich ein Achtzehnjähriger von einer Brücke gestürzt hat«, sagte Richard mit leicht gereizter Stimme. »Das lenkt sie bestimmt ab.«
    Ein paar Jahre zuvor hätte so eine Bemerkung einen jener Wutanfälle ausgelöst, für die sie berüchtigt waren und deren unerträglichem Echo Evy und Lisa nicht einmal in ihrem Zimmer hatten entgehen können. Wie andere Eltern zerschlugen sie bei solchen Gelegenheiten ein bißchen Geschirr, knallten wütend die Türen hinter sich zu und schrien aus vollem Hals, so sehr litten sie unter diesem frustrierenden Leben, das sie mit jedem Tag tiefer in den Abgrund riß. Sie warfen sich gegenseitig ihr berufliches Versagen vor, ihre gescheiterte Karriere, bis sie schließlich entsetzt über sich selbst und erschrocken über die Gemeinheit, die sie in den Tiefen ihrer Seele entdeckten und die ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ, erschöpft ins Bett gingen.
    Mit zunehmendem Alter beruhigten sie sich etwas. Auch wenn sie noch immer davon träumten, zeigten sie ihren Ehrgeiz, die erste Geige zu spielen, zumindest nicht mehr ganz so deutlich – jüngere Leute hatten inzwischen ihre Nachfolge angetreten –, ihre Beziehung war dadurch etwas sanfter, etwas friedlicher geworden und bot nicht mehr das ideale Feld, den perfekten Nährboden für ständige Reibereien, die früher zur Tagesordnung gehört hatten.
    Laure begnügte sich damit, Richard einen ungläubigen Blick zuzuwerfen. War das der Mann, den sie geheiratet, der einzige Mann, für den sich ihr Herz je entflammt hatte? Es war wohl besser, die Sache nicht ernst zu nehmen.
    Richard blickte ihr nach, während sie mit erstaunlichem Elan die Treppe hinaufrannte.
    »Was sagst du dazu?« fragte er Evy, der andere Sorgen hatte und sich nicht sonderlich für diese Frage interessierte, was sollte er denn sagen und zu welchem Thema überhaupt?
    Mit einer resignierten Grimasse wandte sich Richard der Bar zu und schenkte sich mit heftigen Bewegungen einen Martini-Gin ein, in den er eine Olive tat. Wie konnte man sein Leben nur so verpfuschen! Wie war es möglich, so viele Fehler auf allen Gebieten zu begehen, ein schlechter Vater, ein schlechter Ehemann und zugleich ein schlechter Schriftsteller zu sein! War das nicht ein bißchen zuviel auf einmal?
    Woran arbeitete er im Augenblick, worin entfaltete er sein Talent, wohl wissend, daß es seine letzte Rettung war? Welches große Werk hatte er begonnen, das ihm erlauben würde, durchzuhalten? Ein Drehbuch. Nicht ein Buch, sondern ein Drehbuch. Ein völlig beschissenes Skript fürs Fernsehen, aber saumäßig gut bezahlt. Richard sagte sich, daß ein normaler Mensch an seiner Stelle bereits tot wäre. Nur wenige Leute waren imstande, eine solche Leere zu ertragen, meinte er.
    Laure tauchte oben auf der Treppe in Unterwäsche auf und preßte die Hände auf die Wangen, sie wollte Eiswürfel.
    Er schlug ihr vor, eine Gurke zu nehmen, aber sie behauptete, dafür habe sie nicht mehr genug Zeit.
    Er sagte zu ihr: »Ich verstehe nicht, warum dich diese Verabredung so hysterisch macht. Das ist ja geradezu lächerlich.«
    Sie erstarrte mit einem Schlag, als hätten Richards Worte die Macht, sie auf der Stelle in einen Eisblock zu verwandeln.
    »Hysterisch? Diese Verabredung macht mich hysterisch ? Hast du das wirklich gesagt?«
    Evy blickte auf, um zu sehen, wie sich die Situation entwickelte, und nahm sich vor, bei über neunzig Dezibel das Weite zu suchen. Er fand es witzig, daß sein Vater noch eifersüchtig werden konnte, Reflexe dieser Art zeigte, nachdem die beiden schon so viel durchgemacht hatten – denn seit der Zeit, als Richard von morgens bis abends zugedröhnt war, hatte er nicht mehr das Recht, auch nur ein Wort über Laures Verhalten zu verlieren, wenn er sich nicht die Augen auskratzen lassen wollte.
    Richard hatte vor etwa zehn Jahren mit dem Heroin aufgehört, aber er hatte noch nicht alle seine Eherechte wiedererlangt. Das war etwas, was er seinen Kindern nur schwer erklären konnte, ohne in ihnen die Vorstellung zu erwecken, daß ihre Mutter ein Drachen und er ein Schlappschwanz sei, denn der Abstand zwischen der Realität und dem, was sie zu sein schien, war sehr klein und ließ sich nicht leicht

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