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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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nachvollziehen. Richard hatte ganze Tage mit dem Versuch verbracht, den Blick seines Sohns zu ergründen, herauszufinden, ob er etwas Positives oder Negatives für ihn als Vater enthielt, aber um ehrlich zu sein, um die Wahrheit zu sagen, wußte Richard nicht, was sein Sohn von ihm dachte.
    Manchmal fragte er sich, ob es sich tatsächlich lohnte, darüber nachzudenken. Ob es überhaupt in seiner Macht stand, irgend etwas daran zu ändern. Zu jung für das eine, zu alt für das andere, so schätzte er sich selbst mit jenem fatalistischen Lächeln ein, das er bei solchen Gelegenheiten aufsetzte.
    Er bemerkte, daß Evy auf seine Reaktion wartete. Dieser kleine Hosenscheißer wollte sicher herausfinden, ob sein Vater ein hartherziger Kerl oder ein Feigling war. Das war sein Recht. Nichts konnte ihn zwingen, ein feinsinniges Gespür zu entwickeln – und nichts in seiner fast verächtlichen Haltung, das sah Richard deutlich, ließ im übrigen darauf schließen, daß er es tun würde. Aber andererseits konnte auch nichts einen Jungen zwingen, seinem Vater irgend etwas zu verzeihen. Richard nahm sich vor, das nie zu vergessen. Das war zwar traurig, ließ sich aber nicht ändern.
    »Beerdigungen sind nichts für mich«, sagte er und senkte den Kopf. »Vergiß, was ich dir gesagt habe. Ich nehme alles zurück.«
    Er drückte auf den Knopf des Eisbereiters und ließ die Eiswürfel, die so kalt waren, daß sie an den Händen klebten und knisterten wie trockenes Holz, in ein Schälchen fallen. Auch Laure hielt den Augenblick nicht für geeignet, um sich in einen Kampf zu stürzen, der ihre ohnehin schon angeschlagenen Nerven noch stärker belasten und ihre – von den reichlich vergossenen Tränen – verquollenen Züge endgültig verunstalten würde, daher begnügte sie sich mit der Entschuldigung ihres Mannes und streckte zuvorkommenderweise die Waffen.
    Erbärmlich. Das war erbärmlich, sagte sich Evy. Was für ein elendes Spiel trieben sie bloß?
    Seine Eltern begegneten sich auf halber Höhe auf der Treppe und vollzogen die Übergabe der Eiswürfel ohne gehässigen Wortwechsel. Man vernahm das laute Konzert der Grillen und Heuschrecken, anstatt Geschrei zu hören.
    Beim Anblick von Laure in Unterwäsche bekam Richard auch heute noch ein Rohr, um es derb auszudrücken, aber der ehemalige Junkie mußte zugeben, daß ihre Sex-Arien nicht mehr das waren, was sie früher mal gewesen waren, weder qualitativ noch quantitativ, und er gestand ihr durchaus zu, daß er mitschuldig daran war, er war bereit, für die Hälfte der Fehler, die ihre Beziehung vergifteten, die Verantwortung bei sich selbst zu suchen, Laure dagegen brachte astronomische Zahlen vor, war der Ansicht, daß das Scheitern ihrer Ehe vor allem Richard anzulasten sei, daß er zu neunundneunzig Prozent dessen Urheber sei.
    Das war sehr viel mehr als das, was ihm an Urheberschaft an seinen Drehbüchern blieb, nachdem sie eine Bande von Halbidioten zerpflückt hatte. Das war sehr viel mehr, als er akzeptieren konnte, ein Prozentsatz, der nicht die Marter dessen berücksichtigte, der schrieb, die Qualen dessen, der sich ganz allein in die finsteren Abgründe einer Geschichte stürzte, Wasser und Blut schwitzte, während die anderen ein Gläschen auf dem Deck eines Ozeandampfers tranken.
    Neunundneunzig Prozent. Das war völlig grotesk. Wie rechnete sie einen Abend auf, an dem sie hemmungslos flirtete – bei gegenseitigem Gefallen auch mehr – und die Gelegenheit nutzte, daß er sich einen Schuß gesetzt hatte, der ihn in einer Ecke oder, zugegeben, auch mal auf einer Klobrille vor sich hindämmern ließ, wo sie ihn ohne Gewissensbisse hätte verrecken lassen? Wie kam sie da auf ein elendes Hundertstel ?
    Na ja, sie sprachen nicht mehr darüber. Dieses Thema schien abgehakt zu sein. Manchmal fühlten sie sich noch gegenseitig voneinander angezogen, aber nur selten im gleichen Augenblick.
    Laure beugte sich über den Spiegel im Badezimmer und beschloß, daß sie sich wenigstens eine Viertelstunde totaler Entspannung gönnen müsse.
    Richard konnte das nicht verstehen. Richard verstand nichts. Es war, wie wenn man nach einem komatösen Schlaf aufwacht. Und plötzlich wurde die Aussicht, erneut darin zu versinken, zu einer Schreckensvision. Sie hatte festgestellt, daß Richard nichts mehr erwartete, sich allmählich treiben ließ und vielleicht sogar vorhatte, sich ein zweites Mal absacken zu lassen, und diese Feststellung hatte sie bestürzt und schließlich total

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