Die Frühreifen (German Edition)
Schlimmer als eine Klette, von Schuldgefühlen zerfressen, unfähig, ein Auge zuzutun bei dem Gedanken daran, daß ein weiteres Unglück über sie hereinbrechen und einen Rückfall hervorrufen könne.
Es war ein schöner, heißer Tag. Der ganze Hügel roch gut, eine Mischung aus Sommer und Herbst. Die riesige Zeder, die mitten im Garten thronte, erstrahlte buchstäblich, als sei sie mit Schuppen aus Perlmutt bedeckt. Vögel segelten durch die Luft, andere kreisten am azurblauen Himmel. Nicht weit von dort verdunkelte sich das Bild jedoch.
Das Trio betrachtete einen Augenblick Axel Mender, den Typen von der MediaMax, der an seiner silbergrauen Mähne und seinen altmodischen Manieren zu erkennen war, wie zum Beispiel einer Frau – in diesem Fall also Laure – die Hand zu küssen, und zwar von den Fingerspitzen bis zur zarten Falte in der Armbeuge.
Schließlich brachte Richard ein verzerrtes Lächeln zustande und verbiß sich eine Bemerkung. Er wechselte einen Blick mit seinem Sohn, dann mit Anaïs, und schließlich hörte er die Stimme von Laure, die ihren Liegestuhl verlassen hatte und mit ungewohnter Hast auf sie zukam. Richard ließ die beiden in dem Augenblick stehen, als Laure sie fast erreicht hatte, und ging schnell in sein Arbeitszimmer, dessen Tür er offengelassen hatte, so daß sie bei jedem Windstoß in den Angeln knarrte.
Eine Sekunde später schoß der Porsche wie ein Pfeil los. Die Reifen quietschten in der Ausfahrt. Richard riß das Steuer herum und raste am Haus der Crozes vorbei, als steuere er eine Rakete.
»Was ist denn hier los?« fragte Laure mit gespielter Naivität.
Sie ließen Evy erst drei Tage später in Frieden. Uff! Eine Ewigkeit für ihn, endlich konnte er wieder allein frühstücken, ganz in Ruhe. Was nicht heißen soll, daß Richard und Laure all ihre Kräfte verausgabt hatten. Sie waren es nur nicht mehr gewohnt, so früh aufzustehen, das war alles. Seit Lisas Tod waren sie endgültig aus dem Rhythmus gekommen.
Anfangs konnten sie kein Auge mehr zutun. Dann fanden sie allmählich den Schlaf wieder, aber sie gingen spät ins Bett und standen spät auf, nur mit Mühe vor Mittag.
Evy konnte jetzt wieder eine Zigarette rauchen, während er seinen Kaffee trank. Er bedauerte es nicht, ganz plötzlich aufzuwachen – er machte einen Satz in seinem Bett und riß die Augen in der Dunkelheit weit auf, seit seine Schwester kurz vorm Morgengrauen wie ein Stein im See untergegangen war. Wenn er manchmal in der Stille beim Frühstück saß, glaubte er die Stimme seiner Schwester zu hören, und das tat ihm gut. Er blieb mit einem Lächeln auf den Lippen wie angewurzelt auf seinem Hocker sitzen, völlig entzückt über dieses kleine Wunder. Es gab wirklich niemanden, dem er sagen konnte, wie sehr sie ihm fehlte.
Vielleicht Gaby? Er hatte daran gedacht. Er versuchte sie sich als jemanden vorzustellen, dem er sein Herz ausschütten konnte. Sie hatte ihn allerdings noch nicht angerufen. Dabei dürfte inzwischen ganz Brillantmont über seine Geschichte im Bild sein.
Anaïs’ Vater ließ ihn in sein Büro kommen, sobald er wieder in die Schule ging. Vincent Delacosta ließ nur selten Schüler in sein Büro kommen, aber Evy war ein etwas heikler Fall, und kein Schulleiter wollte einen Verrückten in seiner Schule haben.
»Wir dürfen uns nicht von der Gewalt anstecken lassen, die uns umgibt«, erklärte er. »Der Terror holt uns schon schnell genug ein, gehen wir ihm nicht entgegen.« Er nahm Evy den Schwur ab, daß er keinerlei böse Absichten gegenüber seinen Lehrern oder seinen Mitschülern hege, und deutete dadurch an, wie wenig ihn die Darstellung des Jungen überzeugte, der behauptet hatte, er sei von einem Hund gebissen worden – Warum erzählst du mir so einen Unsinn, junger Freund? Hältst du mich etwa für einen Dummkopf?
Das Unangenehmste daran war nicht, Delacosta zuhören, sondern stehen bleiben zu müssen. Die Wunde verheilte zwar gut, aber es fehlte ihm noch an Durchhaltevermögen, und seine Eier hingen schwer wie Blei in seinem Sack. Er hatte Lust, sich hinzusetzen. Und er hatte große Mühe, gewisse bluttriefende Bilder zu verscheuchen – vor allem das mit Dr. String, der ihm mit einer leichten Grimasse den Pimmel hochhob, während das Blut leuchtend rot daraus hervorspritzte wie aus einem Springbrunnen.
»Wie dem auch sei«, seufzte der Schulleiter, während er mit einem Brieföffner spielte, »Anaïs hat mir versichert, daß wir dir vertrauen können. Ich glaube, ihr
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