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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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völlig unsympathisch, aber durchgeknallt war sie trotzdem.
    Sie gehörte zu den Mädchen, die sich wie Leibwächter aufspielten und bereit waren, eine richtige Schlägerei vom Zaun zu brechen, Anaïs hätte sich für Lisa in Stücke reißen lassen.
    Alle, die ihr nachsagten, sie sei lesbisch, bezahlten das mit einer aufgesprungenen Lippe, einem blauen Auge oder einem Fausthieb mitten ins Gesicht, denn das war der reinste Stuß. Die Quasi-Verehrung, die sie für Lisa empfand, entsprang nicht den trüben Wassern sexueller Umkehrung, sondern direkt ihrem Reptilhirn.
    Kurz darauf kam sie selbst, um sich zu erkundigen. Er erzählte ihr, er sei am Blinddarm operiert worden, aber er hatte Pech, denn Dr.   String war, wie sie ihm mitteilte, Mitglied des Verwaltungsrats des Brillantmont-Gymnasiums und hatte mit ihrem Vater gesprochen.
    »Versuch nicht, mich zu überlisten«, sagte sie zu ihm. »Dabei ziehst du nur den kürzeren, ist dir das klar? Hast du genug Grips, um das zu begreifen?«
    Sie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, denn ein Sonnenstrahl flimmerte zwischen den Ästen der Zeder und kitzelte ihr das Gesicht, während sie ein halbes Dutzend Joints in Evys Hemdtasche gleiten ließ, um ihre Worte zu bekräftigen.
    »Gaby Gurlitch ist HIV -positiv, Alter. Weißt du das?«
    Anaïs Delacosta scheute sich nie, die schlimmsten Dinge über jemanden zu erzählen, der nicht das Glück hatte, ihr zu gefallen, oder ihr im Weg war. Evy wußte genau, daß sie eine giftige Zunge hatte und das Blaue vom Himmel herunterlog, aber es gelang ihr, ihn eine Sekunde lang zu verunsichern und ihm einen Tiefschlag zu versetzen.
    Sie hatte sich mit Gewalt Zugang zu seinem Zimmer verschafft, nachdem sie fünf Minuten lang um Laure herumscharwenzelt war, ihr Honig um den Mund geschmiert und das Unschuldslamm gespielt hatte – eine Rolle, die sie in Anwesenheit der Eltern immer spielte –, und dann haute sie ihm so ein Ding um die Ohren. Sie kam gerade aus der Schule. Sie hatte den Schulbus genommen und war dann zu Fuß den Hügel heraufgelaufen, und von der Anstrengung, ihre zwei Zentner auf zwei Beinen hinaufzubewegen, war sie in Schweiß gebadet, und dieser Schweiß, der allmählich abkühlte, dieser starke Geruch, der durch den Raum zog, ihn erfüllte, lief, wie er sich vorstellte, in winzigen Tröpfchen herab und tränkte seine Bettücher. Wirklich widerlich.
    Sie hatte auch einen feuchten Schleier auf der Oberlippe. Der Gürtel ihrer Fransenshorts schnitt ihr in den Bauch, ihre Arme und Beine waren rosa. Und sie verfolgte ihn bis in sein Zimmer. Sie war den Hügel hinaufgestiegen, um ihn in seinem Bett aufzustöbern. Anaïs Delacosta. Ein Mädchen voller fixer Ideen.
    »Die Schlußfolgerungen daraus kannst du selbst ziehen«, fuhr sie fort.
    Bevor sie den Raum ganz verpestete, stand er wortlos auf und ging in den Garten – mit noch wackligen Schritten, humpelnd und mit gespreizten Schenkeln. Laure plauderte mit zwei oder drei Leuten, die in Liegestühlen unter dem Sonnenschirm saßen und eine Erfrischung zu sich nahmen. Daher bog er nach links ab, in Richtung Wald.
    Er hätte sicher eine Dummheit begangen, wenn Richard nicht in diesem Augenblick aus seinem Bungalow gekommen wäre und ihnen den Weg abgeschnitten hätte. Evy hätte Anaïs auf die eine oder andere Weise zu verstehen gegeben, daß sie sich in ihrem Hochmut für unverwundbar halte und wohl glaube, sie könne jeden Scheiß erzählen, der ihr in den Sinn komme, daß sie diesmal aber zu weit gegangen sei und die Grenze überschritten habe, die er ihr gesetzt hatte.
    Sie hatte es also Richard zu verdanken, daß sie an jenem Tag mit heiler Haut davonkam. Es war noch einmal gutgegangen, wenn auch nur haarscharf. Richard meinte, daß sein Sohn ein Gesicht mache, das nichts Gutes verhieß, und so kehrte Evy wieder zur Realität zurück und setzte eine andere Miene auf, die er Der Typ, dem man auf dem Weg der Genesung einen Dolchstoß versetzt nannte, und Richard drückte ihn unbeholfen an seine Schulter.
    »Meinst du, daß ein Spaziergang das richtige für dich ist?« fragte er.
    In gewisser Weise war er noch schlimmer als Laure. Evy fragte sich, ob er ihm nicht nachspionierte, während er schlief, ob er sich nicht zum Beispiel am Fußende seines Betts hinstellte und ihn mehrere Minuten lang anstarrte oder irgend so etwas völlig Abartiges. Drei Tage lang blieb Richard seinem Sohn im Haus ständig auf den Fersen und hinderte ihn daran, den Garten zu verlassen.

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