Die Frühreifen (German Edition)
kennt euch recht gut. Sie hing sehr an deiner Schwester. Wirklich sehr. Auf jeden Fall verbürgt sich Anaïs für dich. Enttäusch sie also nicht, hörst du? Wir verlangen von euch ja nur, daß ihr euch einigermaßen ruhig verhaltet, alle zusammen. Ist das denn so schwer?«
Als Evy seine Freiheit wiederfand, ging er durch den leeren sonnigen Hof von Brillantmont – ein neugotisches Gebäude, dessen Umfassungsmauer völlig von wildem Wein überwuchert war – und fand eine Bank, um etwas zu verschnaufen: Jede Auseinandersetzung mit der Welt der Erwachsenen verursachte einem irgendwann Magenschmerzen, egal, ob man in Form war oder nicht.
Er wischte sich die Stirn an seinem T-Shirt ab. Er sollte eigentlich in seine Klasse gehen, aber er gönnte sich noch ein wenig Ruhe und rauchte im Schatten der sauber geschnittenen Hecke eine Zigarette.
Er dachte an Lisa, an Patrick Storer, den seine Mutter mit Deroxat beseitigt hatte, und an diese HIV -Geschichte – denn auch wenn Anaïs log wie gedruckt, hatte sie einen Zweifel in ihm aufkommen lassen.
Obwohl sich Evy Sorgen um sein Geschlechtsteil machte, löste er am frühen Nachmittag eine Rauferei auf dem Flur zur Turnhalle aus, um dem Gerücht und den ironischen Bemerkungen über sein Mißgeschick ein Ende zu setzen.
Ein unangenehmer Augenblick, der jedoch die beabsichtigte Wirkung erzielte.
Während er noch die Fäuste geballt hatte, flüsterte ihm Anaïs ins Ohr, daß sie die Art und Weise, wie er dieses Problem geregelt habe, sehr schätze, und ausnahmsweise schien ihr anerkennendes Lächeln aufrichtig zu sein.
Anschließend begleitete sie ihn ins Büro ihres Vaters und erklärte diesem, daß sie, ehe er Evy Trendel wegen einer Rauferei, die ihm bald zu Ohren kommen würde, zitieren ließ, ihm lieber gleich sagen wolle, daß sie alles mit angesehen habe und ihr Schützling nicht schuld an der Sache sei.
Vincent Delacosta seufzte. Seine Tochter war derart unförmig und hatte einen so schwierigen Charakter, daß er hoffte, daß sie, wenn sie schon keinen Mann fand, wenigstens ein paar freundschaftliche Beziehungen mit Gleichaltrigen anknüpfte und nicht voller Wut im Bauch zu Hause herumsaß, vor allem wenn man bedachte, wie jähzornig, bockig, unvorhersehbar, dickfellig, stur und verletzend sie war.
Er fragte sich oft, wie er dieses Mädchen hatte zeugen können, das ihm nur Enttäuschungen, Unannehmlichkeiten und Demütigungen bereitete. Aber er ließ sich breitschlagen und konzentrierte seine Anstrengungen von nun an darauf, Konflikte zu entschärfen, ihnen auszuweichen, wenn nötig, den Preis dafür zu zahlen oder sich sogar auf offenem Gelände zurückzuziehen. Er schätzte, daß er nur noch etwa zwanzig Jahre vor sich hatte, was nicht sonderlich viel war, und hatte nicht die Absicht, diese zu vergeuden oder sich die Zeit, die ihm noch zu leben blieb, von seiner Tochter oder wem auch immer verderben zu lassen, und wünschte sich daher nur, daß diese beiden möglichst schnell aus seinem Büro verschwanden, um anderswo Unruhe oder ihr übliches Chaos zu stiften.
Auf jeden Fall schien Anaïs entschlossen zu sein, Evy nicht mehr aus den Fingern zu lassen, und unter dem Vorwand, daß sie ihm aus der Klemme geholfen hatte, äußerte sie den Wunsch, daß er ihr ein Getränk in der Cafeteria spendiere – es gab keinen Zweifel, dieses Mädchen hatte wirklich eine Meise.
»Wir haben uns eine ganze Menge zu erzählen«, sagte sie in scherzhaftem Ton. »Du mußt zugeben, daß du ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt hättest, wenn ich nicht dagewesen wäre.«
Evy reckte den Hals. Er versuchte, Gaby im Pausenhof zu entdecken, in dem es zuging wie in einem Bienenstock – eine Kuh in einer Herde zu suchen war gar nichts dagegen, fluchte er.
»Aber worüber willst du denn reden?« fragte er barsch, während er mit zusammengekniffenen Augen den Hof absuchte, nicht im geringsten daran interessiert, ihr zu folgen.
Er begegnete dem Blick von Andreas, der mit zwei oder drei anderen Jungen unter den Arkaden stand.
»Ich will nur eins«, erwiderte sie. »Ich möchte, daß wir uns gut verstehen, du und ich. Mehr will ich gar nicht.«
Er betrachtete sie mißtrauisch.
»Hör zu«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, sie dir zu zeigen, verstanden? Selbst wenn du noch so darauf bestehst, okay? Geht dich das vielleicht etwas an? Nein, das geht dich nichts an. Tut mir leid.«
Anaïs wußte nicht, ob sie wütend oder betroffen reagieren sollte, und entschied sich
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