Die Frühreifen (German Edition)
Auch wenn sie es noch sosehr verdient hätte, wie sie sich sagte. Auch wenn sie etwas viel Schlimmeres verdient hätte für diese beschissene Sache, auf die sie sich eingelassen hatte. Judith behauptete zwar, mit einem Typen zu schlafen, um seinen Job zu behalten – sie arbeitete in einem Rechtsanwaltsbüro – oder um beruflich aufzusteigen – die besagten Rechtsanwälte hatten sie alle nacheinander aufs Kreuz gelegt und folglich durfte sie an jeder Vorstandssitzung teilnehmen –, sei absolut nicht tadelnswert, sondern im Gegenteil geradezu ein must, doch sie konnte es noch so oft nachdrücklich und voller Überzeugung wiederholen, es in allen Farben ausmalen, es zu einer Forderung erheben, für Laure war das kein Trost. Keine Besänftigung.
Sie zog eine Jeans an und streifte ein superweites T-Shirt über – ihre Brustwarzen, die der Typ wie ein Verrückter geknetet hatte, taten ihr noch weh – und kämmte ihr noch nasses Haar im Halbdunkel des Schafzimmers. Die Tür zum Badezimmer war geöffnet, so daß sie sich im Spiegel sah, bis ihr plötzlich bewußt wurde, daß sie nicht ein einziges Mal ihrem eigenen Blick begegnet war und sich rückwärts ins Dunkel zurückgezogen hatte.
Mit fünfundvierzig an diesem Punkt angelangt zu sein. Das war wirklich das letzte. Manchmal hatte sie den Eindruck, als sei sie von einer großen Leere umgeben, als handele es sich um eine Kulisse, hinter der nichts mehr existierte bis auf so etwas wie eine öde felsige Ebene.
Lisa fehlte ihr manchmal sehr, vor allem wenn sie in solcher Verfassung war, düster und deprimiert. An Lisa zu denken war noch immer schmerzhaft, furchtbar schmerzhaft. Sie hätte viel dafür gegeben, noch eine Tochter zu haben, der sie erzählen konnte, was man alles tun mußte, um eine Rolle zu bekommen, welchen Preis es erforderte, um ins Rampenlicht zu kommen und über den roten Teppich zu schreiten, und ob es nicht besser war, eine Schlaftablette zu nehmen und sich ins Bett zu legen, aber ihr war speiübel.
Wenigstens trank sie nicht mehr. Seit etwa zehn Tagen hatte sie kein einziges Glas mehr angerührt. Dabei hatte sie weiß Gott eine Wahnsinnslust, eine Ausnahme zu machen, um sich auch von innen zu reinigen und Axel Menders Sperma in ihrem Bauch mit einem Feuerregen zu begießen.
Sie hörte die Musik, die aus Evys Zimmer kam. Theoretisch hätte sie spüren müssen, daß sie nicht allein war. Wann hatte sie aufgehört, eine Mutter zu sein? Schon lange vor Lisas Tod. Sie konnte sich nicht selbst belügen: schon lange vor Lisas Tod, lange, lange vor Lisas Tod. In Wirklichkeit hatte es diese Familie schon sehr früh nicht mehr gegeben. Laure ging auf den Flur, näherte sich der Tür ihres Sohns, steckte die Hände in die Taschen, rührte sich nicht mehr und lauschte, steif wie eine Statue.
Die beiden Jungen, die nicht ahnten, daß Laure zitternd hinter der Tür stand – zitterte sie, weil sie den Nachmittag damit verbracht hatte, sich ficken zu lassen, während ihr Mann und ihr Sohn am Strand waren? –, hatten, angetörnt oder nicht, die gleiche Vorliebe für das Album Nummer zwei von The Black Heart Procession und verharrten einen Augenblick schweigend. Dann fragte sich Andreas, der sich mit dem Rücken aufs Bett fallen gelassen hatte, ob er nicht hungrig sei.
Er fragte sich mit lauter Stimme, wer dieses Hähnchen essen würde, da niemand es anscheinend anrühren wollte. Währenddessen überprüfte Evy, ob das Herunterladen schon abgeschlossen war, und sein Gesicht wirkte im blassen Schein des Bildschirms wie in Marmor gemeißelt.
Schließlich zog sich Laure zurück. Sie unterdrückte einen Schluckauf oben auf der Treppe und ging die Stufen hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt. Wenn sie mal einen Moment mit den Vorwürfen aufhören und das Positive an der Sache sehen wollte, durfte sie die Tatsache nicht übersehen, daß Axel Mender ihr zum Glück die blöden Probeaufnahmen erspart hatte, die für eine Schauspielerin, deren Talent keinen Nachweis mehr braucht, äußerst nervtötend waren. Wenn sie nicht in Schwermut verfallen wollte, durfte sie den Dingen keine größere Bedeutung beimessen, als diese in Wirklichkeit besaßen, und sich sagen, daß es sich nur um eine banale Sexgeschichte handelte, einen unangenehmen Augenblick, der schnell vorübergehen würde.
Trotzdem hatte sie das Bedürfnis, Judith anzurufen, denn sie spürte, wie sich vor Angst ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Es war oft besser, mit jemandem zu sprechen. Sie
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