Die Frühreifen (German Edition)
hm?«
»Ich sehe nicht, was so ein Gespräch bringen soll. Ich sehe wirklich nicht, wozu es dienen soll. Wirklich nicht. Was soll das schon?«
»Ich glaube nicht, daß wir etwas dabei zu verlieren haben, wenn wir uns besser kennenlernen«, antwortete sie. »Das kann uns bestimmt nicht schaden.«
Jetzt wird die Sache aber brenzlig, sagte er sich. Jetzt nimmt das eine schräge Wendung. Er erklärte, daß er lieber stehen bleibe. Im Schein des Vollmonds, umgeben von ihren Blumensträußen, ihren Himalaja-Gladiolen, würde seine Mutter nun versuchen, um den heißen Brei herumzureden, und einerseits war Evy durchaus gespannt, wie sie sich aus der Affäre ziehen würde, was für ein Blendpulver sie verstreuen würde – wie zum Beispiel in das Gespräch einfließen zu lassen, daß der Typ die ganze Zeit ein Kondom benutzt hatte, oder zuzugeben, daß sie keinerlei Lust empfunden hatte, oder sich zu fragen, ob ihre Geste nicht in hohem Maße durch ihre Opferbereitschaft und ihre Verzweiflung zu erklären sei, oder letztlich gar das Opfer beziehungsweise die Unschuldige zu spielen, obwohl sie doch pauschal gesprochen zehn Meter gegen den Wind nach Sex stank.
Andererseits war er schon ganz benommen von ihrem Gefasel. Er hatte keine Lust, ihr zuzuhören. Er war nur runtergekommen, um sich eine Portion Hähnchen zu holen, und konnte nichts dafür, daß er ihre heiklen, schlüpfrigen Herzensergüsse mit angehört hatte. Das war für niemanden eine Freude.
»Ich muß wissen, was in deinem Kopf vorgeht«, sagte sie zu ihm. »Ich muß wissen, was du denkst. Versuch nicht, mir die kalte Schulter zu zeigen.«
»Ich zeig dir nicht die kalte Schulter.«
»Doch, du zeigst mir die kalte Schulter. Aber sicher tust du das. Aber sicher . Mir wäre es lieber, wenn du mir ins Gesicht spucken würdest, wenn du es genau wissen willst. Mir wäre es lieber, wenn du mir die Sache ohne Umschweife sagen würdest.«
War diese Frau, Laure Trendel, seine Mutter, eigentlich noch ganz bei Trost?
Als Richard heimkehrte, war niemand im Haus, aber das verdarb ihm nicht die Laune. Er bedauerte es auch nicht, daß er allein zu Abend essen mußte. Man muß sich mit manchen Dingen einfach abfinden, darf sich nicht mehr über die trostlose Situation aufregen, in der sich die meisten Familien befinden, sobald die Kinder groß sind.
Nichts war mehr so wie zuvor. Sobald man das begriffen und akzeptiert hatte, sah die Zukunft nicht mehr ganz so düster aus. Sogar das Halbdunkel wurde akzeptabel – und manchmal hilfreich.
Er schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich an den niedrigen Tisch. Das Hähnchen schmeckte köstlich. Er fühlte sich wie neu belebt von den Augenblicken, die er mit Gaby Gurlitch verbracht hatte, war für den Rest des Abends wie verwandelt. Er hatte sich schon lange nicht mehr so wohl in seiner Haut gefühlt.
Er war früher Schriftsteller gewesen. Eher ein guter Schriftsteller. Doch im Laufe der Zeit hatte er es vergessen, die Sache war einfach aus seinem Bewußtsein verschwunden – unter Schichten von Heroin begraben –, und plötzlich tauchte sie bei einer Spazierfahrt mit einer seiner Leserinnen wieder auf.
Als Gaby Gurlitch ihm mitteilte, daß sie Unabhängigkeit gelesen – seinen letzten Roman, der fünfzehn Jahre zuvor veröffentlicht worden war – und das Buch einfach genial gefunden hatte, wandte er sich ihr zu, unfähig, ein Wort herauszubringen. Sie befanden sich in einem Stau am Stadtrand in der Nähe von Saint-Georges, und die Welt, die ihn umgab, erschien ihm plötzlich leuchtender.
»Habe ich Ihnen das noch nie gesagt?« fügte sie hinzu.
Wie hoch war die Chance heutzutage, einem Jugendlichen zu begegnen, der Bücher las? Einem, der nicht den ganzen Tag vor der Glotze saß und fähig war, ein paar kluge Worte über Shakespeare zu sagen, über Nabokovs Stil in Bewunderung auszubrechen oder einen Roman von Donna Tartt zu verschlingen und zu beten, daß er nie zu Ende gehen möge? Die Chancen standen eins zu tausend.
Richard fragte sich, ob sie nicht eine Erscheinung sei. Eine Hitzewelle stieg über der Fahrbahn auf, während die Sonne in der Ferne zwischen den Hochhäusern des Büroviertels unterging, die Landschaft schien zu schweben, wellte sich in den Spiegelungen, die auf der von neuen Gebäuden in modernem Stil gesäumten Avenue glitzerten, und zwar auf ihrer ganzen Länge von über einem Kilometer. Aber Gaby Gurlitch war durchaus lebendig, und das war genau das, was Richard in diesem Augenblick
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