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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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war, in der sie sich befand. Sie berührte ihre Wangen, die sengend heiß waren wie Backsteine. Es war eine richtige Katastrophe. Keine Mutter konnte sich wünschen, so etwas durchzumachen.
    Dennoch ging sie auf die Bar zu und setzte sich auf einen Hocker. Sie bewies Mut und verzichtete darauf, sich ein Glas einzuschenken. Sie konnte nur wenig zu ihrer Verteidigung vorbringen. Sie fühlte sich wirklich elend. Wie durch ein Wunder schien sie ihm nicht den Appetit verdorben zu haben.
    »Evy, sieh mich an«, sagte sie zu ihm.
    Er füllte sich einen Teller mit Hähnchenfleisch und seufzte unwillkürlich, da er genau wußte, in welch beschissener Lage sie sich beide befanden und was für eine unangenehme Viertelstunde ihnen bevorstand. »Was soll’s?« Das hätte er gern zu ihr gesagt: »Was soll’s?« Aber war das das beste Mittel, um ihren Schmerz zu dämpfen? Er hätte ihr auch gern gesagt, daß ihm die Sache scheißegal war. Daß ihm ihre Sexgeschichten nichts mehr anhaben konnten, selbst wenn sie ausgesprochen schmutzig, ausgesprochen jämmerlich waren.
    »Bitte, sieh mich an.«
    Sie teilte mit Richard die gleiche Vorliebe, Strafen hinzunehmen. Sie versuchte sich nie wirklich zu schützen – seit Lisas Tod schien sie diesen Reflex verloren zu haben. Die gleiche Vorliebe, sich demütigen zu lassen. Einen Augenblick stellte er sich vor, sie auszupeitschen, sie dann an den Haaren zu zerren und ihr den Mund mit einem Pflaster zuzukleben.
    Er drehte sich um und blickte ihr in die Augen.
    »Ich möchte dich um Entschuldigung bitten«, sagte sie. »Ich möchte dich bitten, mich für die Worte zu entschuldigen, die du gehört hast…«
    Sie wandte die Augen ab und begleitete ihren Satz mit einer müden Geste, denn das Unheil war sowieso geschehen, ihr Sohn hatte den detaillierten Bericht der sexuellen Abenteuer seiner Mutter mit angehört und konnte das unverblümte, derbe Vokabular seiner Mama würdigen, ihre Art, das Kind beim Namen zu nennen. Die Schwüle des Abends störte sie.
    Tatsächlich war es gar nicht so heiß, wie Laure meinte. Sie hatte bloß ihrem Sohn solch schockierende Obszönitäten vorgeplappert, sich vor ihm buchstäblich zur Schau gestellt und ihm während ihres Gesprächs mit Judith nichts, aber auch wirklich gar nichts erspart. Sie war zwar gern bereit zu glauben, daß es nur noch wenig über Sex zu hören oder zu sehen gab, was einem vierzehnjährigen Jungen heutzutage den Schlaf raubte, aber sie war nicht hundertprozentig davon überzeugt.
    Wenn sie Evy ins Herz hätte sehen können, hätte sie sich diese Sorge nicht zu machen brauchen. Er hatte sich schon Hunderte von Pornofilmen und ganze Stapel von Zeitschriften reingezogen, ganz zu schweigen von den endlosen Nächten, die er im Internet auf Websites von total ausgeflippten Typen mit völlig abartigen Veranlagungen verbracht hatte, von Leuten, die echt geisteskrank waren, und es war durchaus nicht unmöglich, daß er auf diesem Gebiet alles übertraf, was sie sich vorstellen konnte. Wenn sie Evy ins Herz hätte sehen können, hätte sie ebenfalls erfahren, daß ihre Furcht unbegründet war: Das Bild, das er sich von ihr machte, hatte dadurch keinen Kratzer bekommen. Da sie natürlich nicht wußte, wie hoch oder tief sie in seiner Achtung stand – aber gibt es eine Mutter (oder einen Vater), die in dieser Hinsicht nicht blind ist oder in den Wolken schwebt, kilometerweit von der betäubenden Wirklichkeit entfernt? –, mußte sie ganz naiv befürchten, wegen dieser Geschichte ein paar Federn zu lassen.
    »Es tut mir wahnsinnig, wirklich wahnsinnig leid«, flüsterte sie. »Das hätte uns eigentlich nicht passieren dürfen, glaub mir das. Wenn du wüßtest, wie leid mir das tut. Das war nun wirklich nicht nötig, weder für dich noch für mich.«
    Evy sah nicht so recht, was denn wohl für seine Mutter und ihn hätte nötig sein können. Sie schien zutiefst erschüttert zu sein, aber auch dafür begriff er den Grund nicht, da es ja nicht das erste Mal war, daß sie mit einem anderen Mann als Richard schlief, und das alles durchaus bekannt war.
    »Könntest du mal herkommen und dich eine Minute zu mir setzen?« frage sie ihn.
    »Ich bin runtergekommen, um für Andreas etwas zu essen zu holen. Er wartet auf mich.«
    »Ich nehme an, er kann noch ein paar Minuten länger warten«, erwiderte sie in ziemlich strengem Ton. »Nein? Also würdest du dich bitte einen Augenblick zu mir auf diesen blöden Hocker setzen? Oder ist das zuviel verlangt,

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