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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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verzeihend sein sollte.
    Unter den Bougainvilleasträuchern drohte sich eine Wasserlache zu bilden. Und plötzlich tauchten Andreas und Michèle überraschend wieder auf. Leicht angespannt. Mit noch nassem, geglättetem Haar und finsterem Blick ging Andreas auf das Gartentor zu und stülpte sich verärgert die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf. Andreas’ Problem bestand darin, daß er für sein Alter ziemlich klein war, und das erklärte vieles. Er war ein Hitzkopf, um es genauer zu sagen.
    »Dein Abendessen steht im Kühlschrank«, sagte Brigitte in ruhigem Ton, während Andreas diesem Haus den Rücken kehrte, auf dem in seinen Augen ein Fluch lag – diesem Haus, das ihm immer das Gegenteil von dem bescherte, was er wollte, und nie etwas Gutes brachte.
    »Mir ist es völlig egal, ob es ihm gefällt oder nicht«, erklärte Michèle. »So ist das nun mal. Und das gleiche gilt natürlich auch für dich.«
    »Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Evy, »dann laß mich dabei aus dem Spiel. Das mußt du schon mit ihm selbst regeln. Am besten einigt ihr euch ein für allemal.«
    Sie gingen auf der Straße hinter Andreas her, der ihnen ein gutes Stück voraus war. Die kleinen Lampen, die den Zwischenstreifen beleuchteten, zogen sich wie eine Girlande den Hügel hinauf.
    »Was? Das ist also kein Scherz?« fragte sie. »Du hast es wirklich auf sie abgesehen? Wow! Und völlig abartig noch dazu.«
    Wenn man bedenkt, daß sie auf dieser Straße groß geworden waren, daß die Kindermädchen sie im Kinderwagen hier entlanggefahren hatten, als sie noch nicht mehr als ein paar Pfund wogen und unfähig waren, auch nur ein Wort auszusprechen oder irgendeinen bösen Gedanken zu formulieren, dann blieb einem die Spucke weg. Dann wurde man einen Augenblick lang von einem Gefühl der Nostalgie erfüllt.
    Für Andreas war alles ins Schwanken geraten. Wut und Traurigkeit überwältigten ihn, während er zusah, wie sich Michèle mit leichten Schritten entfernte – sie schien über dem backsteinroten Belag der Einfahrt zu schweben, die, gesäumt von Mimosen, zur Haustür der Aramentis’ führte –, denn die Krönung einer seit der Grundschule beharrlich unterhaltenen Beziehung – der Höhepunkt des Pettings, dessen ganze Skala sie inzwischen erschöpft hatten – entschwand mit jedem Tag ein wenig mehr aus der Sichtweite.
    »Was soll man ihr bloß geben?« fragte er mit lauter Stimme, die Kehle zugeschnürt von diesem Meer aus reiner Finsternis, die das Hirn eines Mädchens für ihn darstellte. »Was soll bloß dieses ganze Theater, das sie ums Vögeln macht, kannst du mir das sagen?«
    Es war verdammt schwer zu sagen, wo die Grenze zwischen den Dingen verlief, die Mädchen akzeptieren, und denen, auf die sie sich nicht einließen. Sie mußten wohl einen Hang zu Haarspaltereien und eine Schwäche dafür haben, Leute verrückt zu machen, sie zur Weißglut zu bringen.
    Er hob einen Tannenzapfen auf, den er gerade mit dem Fuß wegkicken wollte, und schleuderte ihn über das Dach des Hauses – Mallet-Stevens, Londoner Periode –, während Michèle hineinging.
    Andreas kannte einen Typen, der ihm ein Mittel besorgen konnte, mit dem man sogar eine Nonne aufs Kreuz legen konnte, aber Evy war davon nicht begeistert. Was nicht hieß, daß er plötzlich Skrupel bekommen oder Sex abstoßend gefunden hätte. Man darf nicht alles durcheinanderwerfen. Dieses Gefühl, das er für immer verloren geglaubt hatte, diese Erleuchtung, diese Helligkeit, die ihn seit mehreren Tagen erfüllte und immer stärker in Besitz nahm, ohne daß er sich dagegen wehren konnte, hatte nichts mit Sex zu tun.
    Er hatte jedenfalls keine Lust, mit Andreas darüber zu sprechen. Er war sich nicht sicher, daß dieser in dem Zustand ständiger Erregung, in dem er sich seit Beginn des Schuljahrs befand, Verständnis dafür haben würde – eine ganze Familienpackung Kleenex reichte ihm kaum aus für den täglichen Bedarf.
    Sie spuckten auf den Boden, als sie sorgenvoll und voller finsterer Gedanken, von der Last des Universums erdrückt, in vollem Bewußtsein der Leere der Welt und deren stacheligem Panzer an Judith Beverinis Haus vorbeigingen. Die ganze Scheiße kam hauptsächlich dadurch zustande, daß sie nicht motorisiert und von anderen abhängig waren, um in die Stadt zu fahren.
    Andreas führte ein paar Telefongespräche, während sie in der trübseligen Atmosphäre des anbrechenden Abends ihren Weg fortsetzten – manche Anwohner kehrten heim, andere

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