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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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könnte, wenn alles weiterhin so verlief.
    Er hatte einen Mondstrahl genutzt, um mit seinem Handy ein Foto von ihr zu machen. Ein Porträt, das er anschließend auf seinem Drucker ausgedruckt und über seinem Schreibtisch an die Wand geheftet hatte. Man mußte es schon sehen, wenn man es glauben wollte. Er wollte über die intensive Wirkung dieses Porträts im Halbdunkel sprechen, über den hellen Fleck, den es auf der Wand hervorrief und den er eine ganze Weile mit hinter dem Kopf verschränkten Händen betrachtet hatte.
    Er selbst hatte nichts geschluckt, nicht mal Gras geraucht. Gaby Gurlitch reichte ihm vollkommen. Und das war nicht bildlich gesprochen. Er gab ohne weiteres zu, daß sie ihn benommen machte, daß sie einen entscheidenden Einfluß auf ihn ausübte, eine Macht, die jener vergleichbar war, die Lisa früher über ihn besessen hatte.
    Um die Nacht damit zu verbringen, ein schlafendes Mädchen zu betrachten, muß man entweder ein Rad abhaben oder ein bißchen sonderbar sein. Wirklich anders als die anderen.
    Evy war sich durchaus bewußt, daß etwas Seltsames geschah. Daß es die Ausmaße und die Macht einer Lawine hatte, die mit jeder Minute an Umfang gewann und bald seine ideale Größe erreichen würde. Und er sah dem entsetzt und zugleich ruhig entgegen, entschlossen und zugleich fieberhaft.
    Er ließ sich nach hinten sinken, warf einen Blick in den Garten und sah, wie seine Mutter fortging und Éric ihr in kurzem Abstand folgte. Sie entfernte sich mit schnellen Schritten und wackelte dabei stark mit den Hüften. Sie trug ein Kopftuch und eine große dunkle Sonnenbrille. Sie schien etwas angeknackst zu sein, seit er sie dabei überrascht hatte, wie sie ihr Sexualleben zur Schau gestellt hatte. Sie wirkte ziemlich nervös.
    Früher an diesem Morgen hätte man wetten können, daß sie ihr Schlafzimmer nicht so bald verlassen würde. Richard war einen Augenblick im Flur hinter ihrer Tür stehengeblieben, aber er hatte keine Antwort auf seine Frage bekommen, wie es seiner Frau ging oder was mit ihr war.
    Sie hatte ihrem Sohn oft vorgeworfen, er sei verschlossen, habe einen maskenhaften Gesichtsausdruck, aber sie ging nicht gerade mit gutem Beispiel voran – sie ging überhaupt nur selten mit gutem Beispiel voran, sagte er sich.
    Währenddessen war Gaby in goldenes Licht getaucht – ein leuchtender Strahl drang durch eine Lücke genau an der richtigen Stelle durchs Laub. Das war schon fast zuviel, sagte er sich, während er sich stumm über sie beugte, um sie aus noch größerer Nähe zu betrachten, ihren Geruch einzuatmen und ihren Atem zu hören, und drehte dabei seinen Sessel von links nach rechts.
    Im Verlauf der Nacht, während sie schlief, hatte er lange über die sexuelle Beziehung nachgedacht, die Lisa ungehemmt mit ihr unterhalten hatte, und auch wenn dieser Umstand die letzten Monate, die er mit seiner Schwester verbracht hatte, ziemlich überschattet hatte, sah er die Sache inzwischen anders.
    Lisa hatte ihm erklärt, daß die Dreierbeziehung mit Patrick Storer ihnen beiden die Türen zu einer sexuellen Erfüllung geöffnet hatte, die ein Außenstehender nicht begreifen könne. Zu jenem Zeitpunkt war das reinstes Chinesisch für ihn gewesen. Die meiste Zeit holten sich Andreas und er vor einer Website für Lesben einen runter. Reinstes Mandarin aus dem Jahr 1000.
    Aber all diese schwarzen Gedanken hatten sich in der Nacht verflüchtigt, er hatte sie verurteilt, als Dummheit und krasses Unwissen abgestempelt und sie mit starkem Willen und unbeugsamer Entschlossenheit verscheucht, und in der Frühe, beim ersten Lichtschimmer, gab es keinen Vorbehalt mehr in seinem Geist, in der Frühe, beim ersten Lichtschimmer, bestand kein Zweifel mehr in seinem Herzen hinsichtlich der erhabenen Gefühle, die die beiden Mädchen veranlaßt hatten, sich gemeinsam der Hurerei hinzugeben.
    Und das war besser so. Die Situation wurde dadurch viel deutlicher. Geradezu sonnenklar. Er war sogar davon überzeugt, daß Lisa, wenn sie dagewesen wäre, der Sache voll und ganz zugestimmt, diese neue Konstellation mit Begeisterung aufgenommen hätte. Wie er Lisa kannte, hätte sie ihm ihre volle Unterstützung gewährt, er hätte auf der Stelle ihren Segen bekommen.
    Als sie die Augen öffnete, ließ er ihr die Zeit, wieder zu sich zu kommen. Sie stützte sich auf den Ellbogen und richtete sich halb auf. Sie erklärte, daß sie wohl ein bißchen zuviel von dem Zeug genommen habe, und sie lächelten sich gegenseitig an.

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