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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Mindestmaß an Diskretion zu erzählen, all eure beknackten Herzensergüsse, eure Sexgeschichten? Ich mache euch nur darauf aufmerksam, daß der Junge knapp vierzehn ist. Daß der Unterschied zwischen einem vierzehnjährigen Jungen und einem Kind nicht sehr groß ist. Und daß es vielleicht ein paar Dinge gibt, die er nicht unbedingt zu hören braucht, wenn man ihn nicht verunsichern will.«
    In diesem Augenblick tauchte Laure auf. Mit jener Leichenbittermiene, die sie in schwierigen Situationen aufsetzte. »Ausnahmsweise hast du mal völlig recht, Richard«, seufzte sie. »Ja, du hast recht, das gebe ich zu.«
    Sie ließ sich in einen Sessel sinken und wich dabei dem Blick ihres Mannes aus.
    »Aber nun mal langsam«, sagte Judith verärgert. »Was erzählt ihr da für einen Quatsch, ihr beiden? Da komme ich nicht mit. Diese Blagen wissen tausendmal mehr, als man sich vorstellt. Vielleicht mehr als wir. Sie haben wirklich alles gesehen. Sie sind den ganzen Tag im Internet und haben Pornokassetten in ihrem Zimmer, die Jackass, die Dirty Sanchez und all diese schmutzigen Videofilme. Sie kommen an alles heran. Macht doch mal endlich die Augen auf, verflixt noch mal! Kommt in die Wirklichkeit zurück, ich bitte euch!«
    »Wenn du erst mal Kinder hast, kannst du mitreden«, erwiderte Richard.
    Sie senkten die Stimme, denn jetzt tauchte Evy auf.
    Sie sahen zu, wie er vorbeiging und das Haus betrat.
    »Weiß er überhaupt, daß es uns gibt?« fragte Judith verdutzt.
    An diesem strahlenden, heißen Oktobermorgen hatte Evy andere Dinge im Kopf als die außerehelichen sexuellen Heldentaten seiner Mutter. Er kam vom See zurück. War von einer hektischen Unruhe erfüllt. Unterwegs hatte er sich in die Wange gebissen – er hatte eine Abkürzung durch den Wald genommen und die drei Kilometer im Laufschritt zurückgelegt, ohne es zu merken.
    Sein Vater und seine Mutter saßen im Garten mit Éric Duncalah und Judith Beverini, und er hatte fast den Eindruck, in einem Zoo zu sein, so seltsam blickten sie ihn an – mit dieser Art mißtrauischer Beklommenheit, mit der sie ihm häufig begegneten.
    Manchmal fragte sich Evy, ob Eltern im allgemeinen eigentlich etwas anderes taten, als hinter dem Rücken ihrer Kinder etwas auszuhecken. Ob sie nicht ihre ganze Zeit darauf verwandten, zu spionieren, zu kritisieren, zu zwingen, zu erklären, zu jammern, zu büßen oder sie auf die eine oder andere Art gehörig zu nerven. Er fragte sich, ob das nicht so etwas wie ein Krankheit war, die sie mit zunehmendem Alter befiel, und ob sie nichts anderes als Schmerz weitervermitteln konnten.
    Daher ging er, ohne haltzumachen, schnurstracks in sein Zimmer und drehte leise den Schlüssel hinter sich um.
    Und dann hob er den Blick.
    Er hatte noch nie so etwas Schönes gesehen.
    Er war erneut davon überzeugt. Er hatte nicht geträumt. Er nahm den Walkman vom Kopf, strich sich das Haar hinter die Ohren und ging ums Bett, um sich wieder in den Bürosessel zu setzen, in dem er die Nacht verbracht hatte.
    Während seiner Abwesenheit hatte sie das Laken zurückgeworfen, das sie bedeckte, aber das war nicht der Grund für die Verzückung, die ihn erfüllte, auch wenn er nicht total blind war und durchaus sah, daß sie ein Superweib war. Selbst in Skibekleidung, einem Taucheranzug oder einem selbstgestrickten Kleid hätte er sie ebenso vollkommen, ebenso phantastisch gefunden.
    Er hatte daher die ganze Nacht kein Auge zugetan. Hatte zugesehen, wie sie erschöpft vom Gras, das sie geraucht hatte, um den afterglow hinauszuzögern, eingeschlafen war und sich auf die Seite gedreht hatte, aber trotzdem voller Anmut, voller Leichtigkeit, voller Frische. Ihr kurzgeschnittenes Haar glänzte wie Seide, verbreitete einen Strahlenkranz. Und als er sah, daß sie fest schlief, hatte er sie entkleidet, ihr das Laken über die Schulter gezogen und sorgfältig ihre Sachen gefaltet.
    Er empfand eine ungeheure Erleichterung. Endlich. Endlich entspannte er sich ein wenig nach acht Monaten. Ihm wurde klar, wie sehr seine Brust eingeschraubt und seine Muskeln angespannt gewesen waren. Es genügte, zuzusehen, wie sie schlief. Genügte, in ihrer Nähe zu sein und nichts weiter zu verlangen.
    Jeden Morgen war er bei Tagesanbruch aus dem Schlaf emporgefahren, aber vielleicht war das jetzt vorbei. Unzählige Male war er im Laufe dieser Nacht von großer Euphorie und sanfter Schwerelosigkeit erfüllt worden und hatte gespürt, daß nun alles besser werden, sich alles zum Guten wenden

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