Die Frühreifen (German Edition)
Dann schien ihr bewußt zu werden, daß sie nackt war und in einem Bett lag.
»Haben wir, hm…, haben wir etwas gemacht?«
Evy senkte den Blick und verneinte unverzüglich. Er fügte hinzu, er habe im Sessel geschlafen. Sie fand, das sei beknackt.
»Ist dein… dein Problem daran schuld?«
Nein. Er erklärte, die Wunde sei völlig verheilt. Er denke nicht mal mehr daran. Sie war verdutzt. Sie sagte ihm im Vertrauen, daß sie nur wenige Typen kenne, die die Situation nicht ausgenutzt hätten.
Auf jeden Fall hatte sie toll geschlafen. Sie fand es genial, praktisch mitten im Wald schlafen zu können.
Er sammelte seine Kräfte und sagte in scherzhaftem Ton du kannst kommen, wann du willst, ohne sie jedoch direkt anzusehen.
Gleich darauf holte er die Tütchen mit Pulver, die Dany Clarence ihm teuer verkauft hatte, aus der Tasche, und reichte sie ihr.
»Mehr konnte ich im Augenblick nicht kriegen«, sagte er achselzuckend.
»Evy, hast du Geld aus meiner Handtasche genommen?«
Sie warteten auf André und Rose Trendel, die Richard gerade vom Flughafen abholte. Das Wetter hatte sich ein wenig verschlechtert, und große, schneeweiße Wolken jagten wie Raketen von Osten nach Westen, von einem starken Höhenwind vorangetrieben, aber trotzdem war es noch immer schön warm.
Jetzt waren die Strelitzien an der Reihe, das Haus zu schmücken. Sie sollten der Aufgabe, André und Rose zu empfangen und mehrere Tage mit ihnen zu verbringen, eine fröhliche Note verleihen.
Außerhalb ihrer Drehtermine machte Laure jetzt ein griesgrämiges Gesicht, und die Frage, die sie gerade ihrem Sohn gestellt hatte, war auch nicht dazu angetan, die Freude und die gute Laune hervorzubringen, die sich alle, so gut es ging, bei der Ankunft der beiden zur Schau zu stellen bemühten.
Sie hatte sich ein Gläschen genehmigt, denn ihr blieb keine andere Wahl. Wirklich keine andere Wahl. Sie war unter den gegenwärtigen Umständen einfach nicht imstande, ihre Schwiegereltern anders zu empfangen als mit einem Glas in der Hand. Sonst hätte sie nicht mal einen Bruchteil der Kraft gehabt, die nötig war, um sich schlicht und einfach freundlich zu geben.
Sollte sie sich noch ein zweites Glas einschenken, um diese Sache mit Evy klarzustellen? Das wäre wohl übertrieben, es sei denn, sie wollte das Risiko in Kauf nehmen, ihren Text zu lallen, zwischen den Kabeln der Länge nach hinzufallen oder mitten am Nachmittag in ihrer Garderobe schnarchend einzuschlafen.
Sie betrachtete ihren Sohn – der so auf dem Sofa saß, daß sich seine Schultern in gleicher Höhe wie die Armlehnen befanden – und stellte fest, daß er ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Er starrte mit abwesender Miene vor sich hin. Sie warf ihm ein Kissen an den Kopf.
Mitten in den True Dreams of Wichita von Soul Coughing. War sie etwa verrückt geworden?
Er nahm den Kopfhörer ab und reckte sich mit einer Grimasse.
Also, sie finde, daß sie ständig Geld ziehen müsse. Sie habe den Eindruck, von einem Geldautomaten zum anderen zu laufen. Als habe ihre Handtasche ein Loch. Also daher würde sie gern wissen, was er dazu zu sagen habe. Ob er sich in ihrer Handtasche bediene? Ob er sie nicht vielleicht mal über diesen Punkt aufklären wolle?
Er tat, als falle er aus allen Wolken, gab ihr zu verstehen, wie schön es sei, automatisch verdächtigt zu werden, wenn irgend etwas Seltsames im Haus passierte. Sie sagte: »Ich beschuldige dich nicht«, und er: »Wenn das keine Beschuldigung ist, was ist es dann?« Es war fast Mittag, Windböen fegten durch den Garten, blähten die Sonnenschirme, bis der Stoff in der lauen Luft langsam wieder nach unten sank.
Dany Clarence schenkte ihm nichts. Gewährte auch keinen Kredit. »Das ist das beste Mittel, damit wir gute Freunde bleiben«, behauptete er, nachdem er schweigend das Geld gezählt hatte. In gewisser Hinsicht hatte er auch sicher recht, gut möglich, aber seine unbeirrbare Haltung zwang Evy zu vorschnellen Handlungen, die allen Regeln dieser Branche zum Trotz praktisch am hellichten Tag ausgeführt werden mußten – dabei überprüfte sie nie ihre Kontoauszüge und erst recht nicht, wie oft sie mit ihrer Karte Geld abhob. Aber was soll’s, so war das nun mal. Das Entgegenkommen, das ihm Anaïs gewährt hätte, wäre mit unerträglichen Gegenleistungen verbunden gewesen, die die Dicke ihm abverlangt hätte.
»Mein armer Schatz«, sagte Laure und stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Wir haben uns so viele Dinge zu
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