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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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ich haben viel an euch gedacht, das kannst du mir glauben. Nach der Beerdigung hat Rose ebenfalls eine Weile lang Prozac nehmen müssen. Weißt du, niemand ist davon verschont geblieben. Aber ich habe mir gesagt, wenn er mich nicht anruft, wenn er nicht das Telefon in die Hand nimmt, dann kann das nur bedeuten, daß er die Sache im Griff hat.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgend etwas im Griff gehabt habe, um ganz ehrlich zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgend etwas getan habe, um ganz ehrlich zu sein.«
    André betrachtete seinen Sohn lächelnd, aber so, als habe er einen Unbekannten vor sich: »Sagst du das, um mich auf die Palme zu bringen? Ja? Komm, erzähl mir lieber, wie weit du mit deinem neuen Buch bist. Also, wann bist du damit fertig?«
    »Meinem Buch? Was für einem Buch? Ich bin dabei, ein Drehbuch für eine Fernsehserie zu schreiben. Von was für einem Buch redest du? Machst du dich über mich lustig?«
    Nach dem Essen zündete sich André unweigerlich seinen Zigarillo an – einen Zino, die rote Schachtel mit einer Tabakmischung aus Sumatra – und erwiderte: »Ich habe nie gehofft, daß du Schriftsteller wirst. Aber ich habe gehofft, daß du am Leben bleibst. Ich habe gehofft, daß wir so einen Tag wie heute erleben können und den Tag nicht erleben müssen, an dem dein Grab mit Blumen geschmückt wird. Deine Mutter und ich haben dich unterstützt, so gut wir konnten, vergiß das nicht.«
    Jetzt hatten sie sich acht Monate lang nicht gesehen, dachte Richard, und eine knappe Stunde mit seinem Vater hatte schon gereicht, um jede Unterhaltung zwischen ihnen zu einem Fiasko werden zu lassen. Er biß sich auf die Lippen, denn es fehlte ihm an Geduld, das wußte er genau. Schon die Anwesenheit des alten Mannes machte ihn wütend.
    Vielleicht lag es am Adrenalin. An der Spannung, die dadurch geschaffen wurde, daß es jeden Augenblick zum Kampf kommen konnte.
    Seit fünfzehn Jahren hatte Richard jeden Tag diese verdammte Veranda vor Augen. Er kannte niemanden, dem so etwas passiert war. Plötzlich eine Veranda als Anbau an seinem Haus entstehen zu sehen – eine zweistöckige Konstruktion aus Beton, Glas und Stahl – überstieg alles, was man sich über die Tyrannei erzählte, die Eltern ihren Sprößlingen gegenüber ausüben konnten, vor allem wenn, wie in seinem Fall, die Beziehung gespannt war. Niemand aus seinem Bekanntenkreis hatte es erleben müssen, eines schönen Morgens aufzuwachen und sich bei diesem Anblick die Augen zu reiben. Es war, als wären André und Rose mit einer Rakete im Garten gelandet.
    Seine Überdosis in Berlin hatte zwar genügt, um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Die Angst zu sterben war stark genug gewesen. Aber sein Entschluß, mit dem Heroin aufzuhören, war ebenfalls auf den Ekel zurückgegangen, den ihm seine Unterwürfigkeit seinen Eltern gegenüber eingeflößt hatte, sein schlaffer Widerstand, seine Unfähigkeit, mit ihnen ins reine zu kommen, seine feige Haltung angesichts der Aufgabe, die ihn erwartete.
    André dagegen war äußerst stolz auf diese Veranda und das Zimmer darüber, war höchst zufrieden damit. Er begutachtete sie bei jedem Besuch, prüfte, wie sie dem Zahn der Zeit widerstanden hatten, und beschloß, wenn es nötig war, ein paar Ausbesserungsarbeiten vornehmen zu lassen, wie etwa einen Riß zu verspachteln, eine Leiste des Parketts, die sich verzogen hatte, auszuwechseln, das Zimmer neu streichen zu lassen oder die Einrichtung zu erneuern.
    Das verlieh ihm eine gewisse Unabhängigkeit, wenn er bei seinem Sohn zu Besuch war. Diese arme Veranda, die seinerzeit nicht sonderlich gut aufgenommen worden war, erwies sich als eine glänzende Idee, die Rose und er gehabt hatten, ein sinnvolles, praktisches und vor allem originelles Geschenk – aber zu jener Zeit war Richard völlig neben der Spur gewesen, dröhnte sich mit Methadon zu, und Laure interessierte sich für nichts und war daher nicht fähig gewesen, die Sache wirklich zu schätzen.
    Dieser Anbau paßte sich dem Ganzen perfekt an. Man mußte schon verdammt böswillig sein, um das nicht zuzugeben – aber André wußte, daß es gewisse Gebiete gab, auf denen er und sein Sohn sich nie einig sein würden.
    Jedenfalls ließ sich nicht leugnen, daß man schon laut schreien mußte, wenn man die Leute in den anderen Zimmern stören wollte – vor allem da die Zimmer genau auf die andere Seite gingen und massive Holztüren besaßen, die mit Gummidichtungen versehen waren

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