Die fünf Leben der Daisy West
Matt bald aus der Schule zurückkommt.« Prompt entspannt sich die gereizte Stimmung zwischen uns.
Ich schaue meine Freundin strafend an und schüttele gleichzeitig energisch den Kopf, doch in meinem Inneren weiß ich, dass sie recht hat.
Und vielleicht nicht nur, was Matt angeht.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
17
Matt muss die Schule um 14.50 Uhr fluchtartig verlassen haben, denn um 15.07 Uhr betritt er bereits das Haus, natürlich ohne gehetzt zu wirken. Nein, er ist entspannt wie immer.
»Hi«, grüßt er, vielleicht ein bisschen zu eifrig, als er ins Wohnzimmer kommt, wo Audrey und ich vor einer Nachmittagstalkshow hängen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, bin mir aber sicher, dass mein Gesicht glüht. Bevor er da war, befand ich mich in einer Art Dämmerzustand, doch jetzt erlebe ich einen wahren Energieschub.
Matt lächelt mich an und winkt dann auch seiner Schwester zur Begrüßung zu. Er wirft seinen Rucksack auf den Boden und lässt sich in einen der weichen Sessel fallen. Als er sieht, was im Fernsehen läuft, zieht er die dunklen Brauen zusammen. In der Show werfen Teenager ihren Eltern deren schlechte Angewohnheiten vor, zum Beispiel weil sie Drogen nehmen oder mit Zwanzigjährigen ausgehen.
»Was schaut ihr denn da?«, fragt Matt.
»Anspruchsvolles Fernsehen«, murmelt Audrey. »Wenn du die Sendung fünf Minuten gesehen hast, kannst du nicht mehr abschalten.«
Mrs McKean betritt den Raum. Sie trägt einen dieser typischen Mütter-Jogginganzüge, mit denen man nicht nur ins Fitnessstudio, sondern auch zum Einkaufen gehen kann. Sie reibt sich die Hände, als hätte sie sie sich gerade eingecremt. Ich rieche Zitronenduft.
»Audrey, hast du deinen Termin vergessen?«, fragt sie.
»Hä?«, sagt Audrey und löst den Blick nur widerwillig von der unabwendbaren Katastrophe, die sich auf dem Bildschirm ankündigt, um ihre Mutter anzuschauen.
»Du musst um vier Uhr bei der Kontrolle sein und wir sollten um halb vier los, damit wir rechtzeitig dort sind«, sagt Mrs McKean und blickt dann auf die Uhrzeit am Festplattenrekorder, bevor sie sich mir zuwendet. »Daisy, wenn du willst, können wir dich auf dem Weg zu Hause absetzen.«
»Ich bringe sie«, bietet Matt an und hält den Blick weiter auf den Fernseher gerichtet. Ich halte die Luft an.
»Das ist nett, danke Mattie«, antwortet seine Mutter. »Und du ziehst dich jetzt bitte an, Audrey.«
Audrey schaut an sich hinab. Obwohl es erst kurz nach drei Uhr am Nachmittag ist, trägt sie einen Schlafanzug. Sie hat ihn sich angezogen, als wir vom Schwimmbad wiedergekommen sind.
»Aber ich fühle mich wunderbar. Ich verstehe nicht, warum ich trotzdem gehen muss.«
»Du weißt, dass Dr. Albright dich jedes Mal sehen will, wenn wir in der Notaufnahme waren«, antwortet ihre Mutter.
Audrey verdreht die Augen, erhebt sich aber. »Ich melde mich später bei dir, Daisy«, sagt sie noch, bevor sie den Raum verlässt. Mrs McKean folgt ihr. Matt steht ebenfalls auf und stellt den Fernseher ab.
»Gehen wir?«, fragt er.
»Okay«, stimme ich zu, auch wenn ich ein wenig enttäuscht bin, dass er mich so schnell loswerden will.
Sekunden später biegen wir in unsere Einfahrt ein – zumindest fühlt es sich so an, weil ich unterwegs völlig in meine Gedanken versunken war. Ich lege die Hand auf den Türgriff und öffne den Mund, um mich zu verabschieden, da kommt Matt mir zuvor:
»Kann ich mit reinkommen?«, fragt er zu meiner Überraschung.
»Ähm ... ja?«, antworte ich mit einem hörbaren Fragezeichen.
»Bist du sicher?«
»Ja«, erwidere ich entschlossener. »Natürlich kannst du mitkommen.« Meine Niedergeschlagenheit ist wie weggeblasen. Ganz offenbar möchte er zur Abwechslung einfach mal eine Weile bei mir bleiben.
Matt parkt den Wagen und greift nach meiner Tasche, die auf dem Rücksitz steht. Gemeinsam steigen wir die Stufen zum Eingang hinauf und ich öffne die Tür. Im Haus riecht es muffig, man merkt, dass wir einige Tage nicht da waren. Sofort gehe ich ins Esszimmer und öffne dort die Fenster. Matt stellt meine Tasche ab und bleibt am Eingang stehen.
»Wann kommen deine Eltern zurück?«, erkundigt er sich, während er den Blick umherwandern lässt.
»Ab zehn Uhr heute Abend, eher nicht. Vielleicht noch später«, antworte ich und versuche, das Erdgeschoss des Hauses mit seinen Augen zu sehen. Die mehrteilige Sitzgarnitur sieht brandneu aus, obwohl sie wahrscheinlich mehr als zehn Jahre
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