Die fünf Leben der Daisy West
enttäuscht. Doch dann wechselt er selbst das Thema. »Gehst du morgen wieder zur Schule?«
»Ja«, sage ich.
»Audrey auch.«
»Wirklich?« Ich horche erfreut auf.
»Ja, der Arzt hat ihr das Okay gegeben«, antwortet Matt heiter. »Er will nur, dass sie zu keiner Zeit allein ist, falls ein Problem auftritt. Deshalb lässt meine Mutter sie nicht in ihrem Auto zur Schule fahren. Ich nehme sie mit.« Pause. »Was meinst du, sollen wir dich abholen?«
Ich lächele, weil unser Gespräch jetzt so normal klingt, obwohl Matt etwas von mir weiß, was ganz und gar nicht normal ist.
»Gern«, antworte ich.
»Gut, dann sind wir um zwanzig nach sieben bei dir.«
»Super.«
Es ist spät und diese Verabredung wäre eigentlich das logische Ende des Gesprächs, doch ich habe das Gefühl, dass Matt mir noch etwas sagen will. Ich warte geduldig und werde mit jeder Sekunde nervöser. Schließlich beginnt er wieder zu sprechen.
»Daisy ...«
»Hmm?«
»Das war ein total abgedrehter, seltsamer Nachmittag ...«, bemerkt er. Seine Stimme klingt warm. Ich bekomme Gänsehaut auf den Armen.
»Ich weiß.«
»... aber gut«, fährt Matt fort.
»Ach ja?«
»Ja«, bestätigt er. »Es war seltsam und trotzdem in Ordnung. Deinetwegen. Weil ich das Gefühl habe, dich jetzt viel besser zu kennen. Irgendwie fühle ich mich geehrt, dass du mir das alles überdas Programm erzählt hast. Dass du mir die geheimen Dokumente gezeigt hast und so.«
»Trotz ...«, beginne ich, bringe Audreys Namen aber nicht über die Lippen.
»Ja, Daisy«, bestätigt Matt. »Trotzdem.«
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
21
Ich kann nicht einschlafen und um drei Uhr morgens, nach dem dritten Gang zur Toilette, finde ich mich plötzlich in Masons Büro wieder, wie eine Süchtige magisch angezogen von Gavins Ordner. Ich will nicht darüber nachdenken, aber ich kann nicht anders.
Wieder melde ich mich per Hand-Abdruck an. Als die Aufforderung erscheint, das gesprochene Passwort einzugeben, schleiche ich mich auf Zehenspitzen zur Tür und schließe sie leise, um Mason oder Cassie nicht zu wecken. Sobald ich wieder vor dem Schreibtisch sitze, spreche ich das Wort Halcyon so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob der Computer mich hören kann, aber es funktioniert. Ich bin drin.
Ich suche nach Gavins Ordner, weiß aber schon wieder nicht, hinter welchem der verschlüsselten Namen er sich verbirgt. Mit der linken Hand fahre ich über das Icon für kürzlich geöffnete Dateien und ziehe die Seite dann so weit auf, dass auch Einzelheiten sichtbar werden. Ich sortiere sie nach der Uhrzeit, zu der zum letzten Mal auf sie zugegriffen wurde, und finde, wonach ich suche. Doch dann bemerke ich etwas Eigenartiges. Gestern wurde ein neuer Ordner angelegt. Noch seltsamer ist, dass er, obwohl nach dem gleichen Schema wie die anderen benannt, als »versteckt« markiert wurde. Er wird somit nicht im Verzeichnis angezeigt. Man findet ihn nur, wenn man auch weiß, dass er dort gespeichert wurde.
»Seltsam«, flüstere ich mit wachsender Verblüffung, während ich diesen Ordner auswähle und die erste Datei darin öffne. Im Unterschied zu den anderen ist der Bericht getippt und nicht handgeschrieben, aber er ist genauso strukturiert. Ich befürchte, dass es sich um einen Fall wie bei Chase handelt – dass eines der Revive-Kids erneut gestorben ist. Ich überfliege den Anfang und rücke überrascht noch näher an den Bildschirm heran, als ich sehe, dass anstelle des Namens »vertraulich« dasteht.
Der Name wird vertraulich behandelt?
Als ich den Rest der Seite lese, erfahre ich, dass das Medikament bei der Person gewirkt hat: Sie ist erfolgreich wiederbelebt und nach Franklin, Nevada, umgesiedelt worden. Der einzige Unterschied ist, dass dort »Auto« und nicht »Bus« steht, es muss sich also um ein anderes Unglück handeln. Ist einer von uns erneut in einen Unfall verwickelt gewesen?
Ich scrolle zum Anfang der Seite, um zu sehen, welche Nummer der Fall hat, damit ich die hier als vertraulich behandelte Testperson identifizieren kann.
Einige quälende Sekunden vergehen, bis ich die entsprechende Stelle finde und sehe: Ich befinde mich im Ordner für Fall Nummer –
Was?!
Mir stockt der Atem. »Das kann nicht sein«, murmle ich kopfschüttelnd.
Panik steigt in mir auf, obwohl ich weiß, dass ich hier in diesem Haus völlig sicher bin. Die Türen sind verschlossen und auf der anderen Seite des Flurs schlafen zwei bewaffnete
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