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Die fünf Leben der Daisy West

Die fünf Leben der Daisy West

Titel: Die fünf Leben der Daisy West Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Patrick
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generiert. ©2012
30
    Mason ist auf dem Weg zurück aus Seattle, zum zweiten Mal, doch im Moment bin ich noch allein. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, es war die ganze Zeit so. Wenn James nach mir gesehen hat, habe ich davon nichts bemerkt. Wohl ein Zeichen, dass er seinen Job ziemlich gut macht.
    Ich putze mir die Zähne, denke daran, dass Audrey tot ist, und muss mich übergeben. Ich putze mir abermals die Zähne. Lange starre ich in den Spiegel, ohne mich wirklich zu sehen. Ich beginne, mich in meiner eigenen Haut gefangen zu fühlen, und habe das Gefühl, mich unbedingt bewegen zu müssen, um nicht verrückt zu werden. Ich laufe aus dem Haus, ohne zu wissen, wohin. Einige Straßenecken weiter schreibe ich eine SMS an Matt.
    Wo bist du?
    Zu Hause.
    Ich komme.
    Keine Antwort.
    Vielleicht habe ich ein Taxi angerufen, vielleicht kam es auch zufällig vorbei. Ich weiß es nicht mehr genau. Ich gebe dem Fahrer die Adresse der McKeans und muss mich unterwegs zwingen, das Atmen nicht zu vergessen. Als ich den Blick senke, fällt mir auf, dass ich Audreys Jeans trage. Ich beuge mich vor und für den Rest der Fahrt schluchze ich leise vor mich hin. Der Taxifahrer hat großes Glück, dass er nicht zu mir schaut oder mich fragt, ob alles in Ordnung ist.
    Vor dem Haus der McKeans steht der Mini. Fröhlich strahlendwartet er darauf, Hup Hup mit Audrey am Steuer durch die Stadt zu sausen. Am liebsten würde ich dagegengetreten oder mit einem Schlüssel über den Lack ziehen: Der Wagen strahlt zu viel Fröhlichkeit aus.
    Matt öffnet die Tür, wortlos. Er zieht sie weiter auf, sodass ich eintreten kann, was ich auch tue, obwohl ich das Gefühl habe, dass es ihm nicht recht ist. Ich folge ihm in sein Zimmer, ohne mich darum zu kümmern, wer sonst noch zu Hause ist oder wen das vielleicht interessiert.
    »Ich weiß nicht, warum du hier bist«, sagt er, als wir uns beide auf sein zerwühltes Bett setzen. Ich bin zum ersten Mal in seinem Zimmer.
    »Ich wollte nicht allein sein«, antworte ich ehrlich. Mir ist inzwischen alles egal. »Und ich wollte wissen, was geschehen ist. Hast du es getan?«
    »Ja.« Mit leerem Blick starrt er auf die gegenüberliegende Wand.
    »Und?«
    »Nichts und«, sagt er. »Keine fünf Minuten, nachdem der Arzt sie für tot erklärt hat, habe ich es ihr gespritzt.«
    »Und?«, frage ich abermals und so behutsam wie möglich. Matt dreht sich so ruckartig zu mir um, dass ich vor Schreck aufspringe.
    »Und was, Daisy?«, zischt er. »Was zum Teufel glaubst du? Sitzt Audrey jetzt etwa neben mir?«
    Er umklammert die Bettdecke, als hätte er Angst herunterzufallen.
    »War wohl keine gute Idee zu kommen«, sage ich und erhebe mich. »Tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat.«
    »Sicher«, murmelt Matt. Ich koche innerlich und möchte ihn am liebsten anschreien. Ihm sagen, dass ich seine Schwester geliebt habe und ihn selbst noch immer liebe. Ihn schütteln und ihm vorwerfen, dass er es vielleicht falsch gemacht hat. Ihn in den Arm nehmen und mit ihm auf seinem Bett zusammen weinen.
    Stattdessen gehe ich.
    Eine Stunde später steht Matt vor meiner Tür. Er ist verschwitzt und ich frage mich, ob er womöglich den ganzen Weg bis hierher gelaufen ist. Ich lasse ihn herein und wir gehen nach oben in mein Zimmer. Alles ist genauso wie zuvor bei ihm, nur umgekehrt.
    Und doch ist es nicht genauso.
    Wir wechseln nicht ein einziges Wort. Ich betrete mein Zimmer zuerst und er folgt mir, mitten im Raum greift er unvermittelt nach meiner Hand und wirbelt mich herum. Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich, erst zögerlich, dann fest und aggressiv. Dennoch tut er nichts, was gegen meinen Willen wäre. Ich habe das Gefühl, den Schmerz aus ihm herauszusaugen wie das Gift nach dem Biss einer Klapperschlange, und für einige Minuten vergesse ich mein eigenes Elend.
    Wir lassen uns aufs Bett fallen und bleiben so eng aneinandergedrückt liegen, dass unsere Hände nicht einmal Raum haben, um den Körper des anderen zu erforschen. Darum geht es in dem Moment auch gar nicht, es ist so viel mehr als das. Wie von selbst wird der Stoff zwischen uns fortgeschoben und wir sind uns so nah, dass ...
    Abrupt stößt Matt mich fort und steht auf. Seine Jeans ist aufgeknöpft und das T-Shirt zerknittert und ausgeleiert. Seine Haare sind zerzaust, in seinen Augen sehe ich die Tränen aufsteigen.
    »Was tue ich hier eigentlich?!«, sagt er mit einer so gequälten Stimme, dass es mich physisch schmerzt. »Ich weiß nicht,

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