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Die fünf Leben der Daisy West

Die fünf Leben der Daisy West

Titel: Die fünf Leben der Daisy West Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Patrick
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an das Programm und an Nora. Wie Gott Macht über Nora ausgeübt hat. Und wie er durch Regeln und Eide auch über mich Macht ausübt.
    Ich denke an Megan.
    Ich denke daran, selbst Macht auszuüben.
    Und dann tippe ich, ohne länger zu zögern, den Code ein.
    Um achtzehn Uhr dreißig stehe ich allein auf dem Weg am Fluss und beobachte, wie sich die Menschen nach einem langen Arbeitstag ameisengleich durch die Straßen bewegen. Mason und die anderen Agenten nennen sie – die normalen Menschen – die Unaufgeklärten. Für mich sind es eher die Unberührten.
    Ich höre, wie jemand in meine Richtung rennt, drehe mich aber nicht um. Das Geräusch der sich nähernden Schritte wird lauter, dann langsamer, bis ich neben mir ein Japsen vernehme, sonst nichts.
    »Du sollst wissen, dass ich das nicht für dich tue«, sage ich und halte den Blick auf die Skyline gerichtet.
    »Du wirst deine Gründe haben«, antwortet Matt schroff. »Können wir es hinter uns bringen? Ich muss schnell zurück ins Krankenhaus.«
    Endlich drehe ich mich zu ihm um. Zum zweiten Mal an diesem Tag treffen sich unsere Blicke. Und zum zweiten Mal würde ich ihn, obwohl ich zornig bin, am liebsten umarmen. Doch ich beherrsche mich. Stattdessen greife ich in die Tasche und ziehe eine kleine aufgezogene Spritze hervor, mit einer Plastikhülle über der Nadel.
    »Verbrenn die Spritze, wenn du sie benutzt hast«, weise ich ihn an.
    »Okay.«
    »Ich habe selbst noch nie miterlebt, wie Revive bei einem Menschen eingesetzt wird«, fahre ich fort. »Aber ich glaube, du solltest ihr die gesamte Menge spritzen.«
    »Wohin?«, will er wissen. Eine abendliche Brise weht ihm eine lange Haarsträhne in die Augen. Er schüttelt sie fort, offenbar stört sie ihn.
    »Ich weiß es nicht«, gestehe ich und versuche mich gleichzeitig zu erinnern. Ein Mal hing ich am Tropf, als ich aufgewacht bin. Vielleicht auch zwei Mal. »Hängt sie am Tropf? Dann kannst du es dort hineingeben. Oder einfach in den Arm spritzen.«
    »Okay.« Er klingt unsicher.
    »Matt, du musst das nicht tun, wenn ...«
    »Muss ich wohl«, unterbricht er mich. »Ich muss es tun. Schaden kann es ihr nicht. Immerhin ist sie zu dem Zeitpunkt bereits – «
    »Ich weiß«, komme ich ihm zuvor, weil ich nicht will, dass er es ausspricht. »Aber du solltest daran denken, dass dies keine Kleinigkeit ist«, mahne ich und denke an Nora.
    »Ich werde dir keinen Ärger bereiten!«, fährt Matt mich an.
    »Das meine ich nicht«, antworte ich ruhig. »Es gibt Schlimmeres, als dass ich Ärger bekomme.«
    Matt sieht mich an und scheint auf eine Erklärung zu warten, die ich ihm aber nicht gebe. Stattdessen schiebe ich nur die Hände in die Hosentaschen meiner Jeans. Ich will ihm keine Angst machen, besonders nicht in der derzeitigen Situation. Denn in meinem Inneren weiß ich, dass er es ohnehin tun wird.
    »Sei vorsichtig«, sage ich noch bittend und erkenne an seinem sanften Blick, dass ich zu ihm durchgedrungen bin.
    »Das bin ich«, antwortet er leise, während er einen Schritt zurückmacht. »Danke, dass du es besorgt hast.«
    »Gern geschehen«, antworte ich, doch viel mehr als ein Flüstern bringe ich nicht heraus.
    Ich sehe Matt nach. Ein einziges Mal dreht er sich um und in dem Moment sehe ich etwas Zärtliches in seinem Blick. Doch dann wendet er sich wieder ab und ist schnell, zu schnell, verschwunden.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
29
    Mitten in der nächsten Nacht wache ich auf. Ich schaue auf den Wecker: Er zeigt 2.38 Uhr. Unsicher, was mich aus dem Schlaf gerissen hat, lausche ich auf die Geräusche in der Dunkelheit. Der Ast eines Baumes streicht von außen über mein Fenster. In der Ferne quietschen die Reifen eines Autos. Ich warte darauf, Masons Schnarchen zu hören, bis mir einfällt, dass er gar nicht da ist.
    Ich fühle mich zwar einsam, aber Angst habe ich nicht. Nach einer Weile gelingt es mir, mich so weit zu entspannen, dass ich das Knacken des Hauses und das Bellen des Hundes nebenan nur noch unterschwellig wahrnehme und wieder einschlafe.
    Als ich erneut aufwache, fühle ich mich benommen. Es ist Tag, doch die Welt ist zu still. Die Sonne ist auf der falschen Seite des Hauses, aber noch etwas ist anders.
    Irgendwie fühle ich es, weiß ich es.
    Ich greife nach dem Telefon und schreibe eine SMS an Matt, um mich zu vergewissern.
    Mitten in der Nacht ist es geschehen.
    Audrey ist tot.

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