Die fünf Leben der Daisy West
und zwingt sich dann zu einem kurzen Lächeln, bevor er die Bombe platzen lässt. »Das geht leider nicht«, erklärt er Mason. »Auf der Intensivstation sind nur die engsten Familienmitglieder zugelassen.«
»Verstehe«, antwortet Mason sachlich. Für einen Moment kommt mir der vollkommen haltlose Gedanke, Mason könnte Mr McKean vorher angerufen und ihn gebeten haben zu lügen, aber in meinem Inneren weiß ich, dass er so etwas nie tun würde. Vorhin im Auto hat er mit mir nur über das Thema Abschied gesprochen, um mich zu schützen.
Hilflos trotte ich zu dem Stuhl, der am weitesten von Matt entfernt ist, und lasse mich auf den Sitz fallen.
Die Männer unterhalten sich leise weiter. Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich versuche, nicht hinzuhören, als Mason davon spricht, bei Bedarf jederzeit zur Verfügung zu stehen. Er geht sogar so weit, psychologische Betreuung für Matt anzubieten, was ich unverantwortlich finde, obwohl mir bewusst ist, dass er damit nur seine Deckung aufrechterhält. Ich knabbere an meinem Daumennagel. Matt starrt aus dem Fenster. Irgendwann verabschieden sich die Männer per Handschlag. Mrs McKean starrt in ihren Tee. Mason kommt zu mir. »Komm, wir fahren nach Hause.«
»Das war’s dann?«, frage ich.
»Ja, das war’s.«
Erschöpft und wütend über die Krankenhausregeln gehe ich, sobald wir zu Hause sind, sofort in mein Zimmer und ziehe mir im Bett die Decke über den Kopf. Nach kurzer Zeit kommt Mason. Er setzt sich ans Fußende und berührt flüchtig meinen Fuß unter dem Stoff. Dann legt er die Hände in den Schoß.
»Daisy, möchtest du zurück nach Seattle und dort noch einige Tage mit Megan verbringen?«
»Ich will hierbleiben, für den Fall, dass sie ihre Meinung ändern.«
»Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich.«
»Trotzdem.«
»Ich dachte, Megan könnte dich vielleicht aufheitern«, versucht Mason es noch einmal. »Ihr beide scheint euch wirklich gut zu verstehen. Und ich könnte Cassie helfen – «
»Ist das vielleicht der eigentliche Grund? Du willst zurück, damit der Test schneller beendet werden kann?«, unterbreche ich ihn.
»Nein, aber das wäre ein angenehmer Nebeneffekt«, bekennt Mason ehrlich.
»Dann fahr.«
»Ich kann dich hier nicht allein lassen.«
»Du hast mich schon tausend Mal allein gelassen«, widerspreche ich kopfschüttelnd. »Organisiere doch jemanden, der nach mir sieht, wenn du so besorgt bist.«
»Ich ...« Mason hält inne. Ich merke, dass er darüber nachdenkt.
»Für mich ist das in Ordnung. Wirklich. Ich bin im Moment sowieso lieber für mich.«
Mason nickt verständnisvoll. Genau wie ich schätzt er das Alleinsein.
»Gut, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, rufe ich vielleicht James an.«
Zwei Stunden später bin ich an dem schlimmsten Tag meines Lebens allein in einem leeren Haus.
Ich fahre aus dem Schlaf hoch. Im ersten Moment habe ich dasGefühl, vierundzwanzig Stunden geschlafen zu haben. Schnell wird mir jedoch bewusst, dass derselbe schreckliche Tag noch immer nicht zu Ende ist: der Tag, der in Seattle begann und an dessen Ende ich allein bin, in einem leeren Haus, ohne die Erlaubnis, meine sterbende Freundin im Krankenhaus zu sehen.
Einen Moment bleibe ich still liegen und denke an alles, was geschehen und schiefgelaufen ist. Dann setze ich mich auf, reibe mir die Augen und werde immer unruhiger. Schließlich halte ich es im Bett nicht mehr aus. Ärger und Adrenalin treiben mich aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Auf dem Flur zwischen Küche und Wohnzimmer mache ich kehrt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich muss aber etwas tun.
Die Antwort trifft mich im nächsten Moment wie ein Donnerschlag.
Ich laufe zur Kellertür und schalte das Licht ein. Während ich die Treppe hinunterhaste, steigt mir der Geruch von Rattenkot in die Nase und ich muss würgen. Unten angekommen, vergewissere ich mich, dass jede Lampe leuchtet. Ich will alles sehen: die medizinischen Geräte und Instrumente; die Käfige mit den quiekenden, haarigen Laborratten; den kleinen, verschlossenen Schrank, in dem sie die Waffen aufbewahren.
Ich will die schwarze Kassette sehen. In meinem Kopf höre ich Masons Stimme, die sagt Für den Notfall .
Wenn das kein Notfall ist, dann weiß ich nicht, was ein Notfall sein sollte.
Ich strecke die Hand danach aus, zögere dann aber, bevor ich sie öffne. Tief in mir weiß ich, dass das, was ich tue, falsch ist. Doch dann denke ich an Audrey. Und ich denke an Matt. Ich denke an Gott und
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