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Die fünf Leben der Daisy West

Die fünf Leben der Daisy West

Titel: Die fünf Leben der Daisy West Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Patrick
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kneife die Augen zusammen.
    Wie kann er mir so etwas erzählen, wenn ich im Schlafanzug vor ihm stehe?
    Ich weiß selbst nicht, warum ich ein behutsameres Verhalten von ihm erwartet habe. Schließlich hat er täglich mit dem Tod zu tun, für ihn ist er eine sachliche, keine persönliche Angelegenheit. Genauso wenig weiß ich, warum ich mir eine deutlichere Vorwarnung von Audrey erwartet habe. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich irgendetwas erwartet habe. So geht das Leben von Menschen, die keinen Zugang zu Revive haben, eben zu Ende: unbequem und ohne Puffer.
    Sie fallen in ein Koma.
    Und sterben.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
28
    Meine Gedanken kreisen um Audrey. Immer wieder rufe ich mir die letzten Male, die wir uns gesehen haben, ins Gedächtnis zurück, und so kann ich mich im Nachhinein kaum an den Rückflug nach Omaha erinnern. Nach der Landung holen wir unser Gepäck, gehen zum Auto und fahren direkt vom Flughafen zum Krankenhaus. Doch auf dem Weg dorthin versucht Mason mir plötzlich auszureden, Audrey zu sehen.
    »Daisy, ich bin mit dir zurückgeflogen, damit du dich von deiner Freundin verabschieden kannst, aber ich möchte, dass du eine Sache weißt.«
    Als ich nicht reagiere, spricht er weiter.
    »Du musst nicht ins Krankenhaus. Audrey würde es verstehen.«
    »Was redest du denn da?«, frage ich. Meine Stimme ist heiser, weil ich so lange nicht gesprochen habe.
    »Ich habe im Flugzeug lange darüber nachgedacht«, sagt Mason. »Die Leute eilen ans Sterbebett von Menschen, die ihnen nahestehen, weil sie glauben, dass es ihnen guttut, sich zu verabschieden, ihren Lieben ein letztes Mal die Hand zu halten. Aber Daisy, es muss nicht unbedingt gut sein. Viele werden das Bild der sterbenden Person nicht mehr los. Die Leute tun es dennoch. Und ich bringe dich gern zu ihr, wenn du es möchtest. Ich will nur, dass du weißt, es ist in Ordnung, wenn du dir das Bild der lachenden Audrey erhalten und dich so an sie erinnern willst. Inzwischen lacht sie nämlich nicht mehr. Sie ist nicht mehr bei Bewusstsein. Sie ist kaum noch am Leben. Eine Maschine übernimmt für sie das Atmen. Verstehst du das?«
    Ich antworte nicht sofort. Ich denke an Audrey, wie ich sie auf dem Gang vor den Schließfächern kennengelernt habe, an das perfekte Bild von ihr. Kurz lasse ich mir Masons Argumentation durch den Kopf gehen. Aber mich vor den schlechten Zeiten zu drücken, um mich an die guten erinnern zu können, fühlt sich falsch an. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Mason selbst von seinem Ratschlag überzeugt ist.
    »Ich gehe«, sage ich bestimmt.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung ist.«
    »Aber es ist meine Entscheidung, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Dann gehe ich.«
    Als ich das Krankenhaus betrete, habe ich plötzlich ein mulmiges Gefühl im Magen. Überrascht stelle ich fest, dass ich Angst habe, ohne Audrey zu sehen, als wäre ihr bevorstehender Tod ansteckend. Doch tief in meinem Inneren weiß ich, dass ich diesen Weg gehen muss.
    Wir durchqueren die riesige Eingangshalle. Das in gedämpften Farben gehaltene Krankenhaus mit der dreigeschossigen Fensterwand wirkt hell und freundlich, als wolle es Hoffnung machen. Doch ich habe keine Hoffnung.
    Wir begeben uns zum Wartezimmer der Intensivstation. Die Tische dort sind angeordnet wie in einer Lounge. Um einen Fernseher herum stehen Stühle und an den Wänden Sofas. Die Möbel sind teilweise blassblau, ähnlich der Standard-Hintergrundfarbe eines Computerbildschirms, und teilweise in einem Apricot-Ton gehalten. Der Raum ist größer als unser Keller, doch außer den McKeans – ohne Audrey –, Mason und mir ist niemand zu sehen.
    Als wir eintreten, löst Matt den Blick vom Fenster und blickt zu mir.
    Abgesehen von seinen Augen, aus denen der Schmerz schreit, wirkt er gleichgültig. Trotz seines Verhaltens, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben, würde ich am liebsten zu ihm laufen und alles versuchen, um ihm zu helfen. Doch noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, wendet er den Blick ab.
    Mrs McKean rührt Tee in einer Papptasse um, Mr McKean schreitet auf und ab. Ich frage mich, wer bei Audrey ist, bis ihr Vater Mason erklärt, dass die Besuchszeit für heute Nachmittag beendet sei.
    »Wie schade«, sagt Mason und sieht mich an, bevor er sich leise erkundigt: »Wann wäre denn eine gute Zeit, um wiederzukommen? Daisy würde Audrey gern sehen.«
    Mr McKean schaut mich niedergeschlagen an

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