Die fünf Leben der Daisy West
ihnen dann ihr Beileid aus. Ich beobachte, wie Mason die Hand auf Cassies Rücken legt wie ein fürsorglicher Ehemann, und möchte am liebsten schreien, dass er mit dem Schauspiel aufhören soll. Hier geht es um die Wirklichkeit.
Ich schaue zu Matt und bilde mir ein, den Schmerz, der von ihm abstrahlt, sehen zu können.
Ich liebe ihn, trotz allem.
Ohne darüber nachzudenken, gehe ich zu ihm, stelle mich neben ihn und greife nach seiner Hand.
Dabei starre ich auf Audreys Sarg. Auch wenn ich ihn weiterhin nicht ansehe, bin ich mir sicher, dass Matt das Gleiche tut. Er zieht seine Hand nicht zurück. Er hält mich fest, lässt nicht los. Was wir brauchen, ist einander.
Ewig bleiben wir so stehen. Mit Audreys Bruder neben mir, ohne die schluchzenden Heuchler um mich herum, die so tun, als wären sie ihre Freunde, lasse ich den Schmerz wirklich an mich heran. Ich spüre den Verlust jetzt in jeder Pore, von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Ich habe das Gefühl, in mir würde etwas verrotten und Bitterkeit, Wut und Trauer freisetzen, die in meinen ganzen Körper strömen.
Während ich dort stehe und Matts Hand halte, würde ich gern so viel mehr zu ihm sagen. Ich möchte ihm sagen, wie leid es mir tut. Ich möchte ihm sagen, dass ich mich sehr schlecht fühle, weil Revive nicht funktioniert hat. Ich möchte ihm sagen, dass ich ihn liebe und dass ich ihn so gern von seinem Schmerz befreien würde.
Doch ich kann nicht. Ich kann nicht sprechen. Und ich kann Matt seinen Schmerz nicht abnehmen, weil ich selbst mit meinem zu kämpfen habe und keinen Raum finde, um seinen noch aufzunehmen. Als würde er sich nach der Stimmung richten, bezieht der Nachmittagshimmel und es riecht nach Regen. Doch dann ist meine Benommenheit plötzlich wie weggewischt und ich blicke in den Himmel.
Bist du dort oben? Ich denke an Audrey. Nichts geschieht.
Weil sie tot ist.
Tot.
Ich denke darüber nach, was das wirklich bedeutet.
Es ist nicht so, wie fort zu sein – wie meine echten Eltern oder die Nonnen oder die Leute an den Orten, die wir verlassen mussten. Fort zu sein bedeutet, dass man wieder zurückkommen kann, wennman es wirklich möchte. Anders als man es mich zuvor gelehrt hatte, kann man vom Tod nicht mehr zurückkommen. Nicht wirklich. Eines Tages werde auch ich für immer sterben. Dann wird es so sein wie bei Audrey.
Ich werde nicht fort sein, sondern
tot.
Bei dem Gedanken erschauere ich und Matt drückt meine Hand fester.
Abermals senke ich den Blick auf die Grabstätte. Erst in dem Moment merke ich, dass Matt und ich allein sind. Ich schaue zu ihm.
Seine Augen ruhen bereits auf mir.
»Hi«, sagt er, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Dann blickt er auf unsere ineinander verschränkten Hände und lächelt. Anschließend sieht er mir wieder in die Augen.
»Hi«, grüße ich den Jungen zurück, den ich nie verlassen will.
»Es tut mir wirklich leid«, entschuldigt sich Matt.
»Mir auch.«
Schließlich verlassen wir den Friedhof. Schweigend fahren wir zu Matt nach Hause. Die Stille lastet schwer auf uns. Überall stehen Autos: in der Einfahrt und am Straßenrand bis um die Ecke. Matt parkt in einer kleinen Lücke, ein Stück vom Haus entfernt. Als wir uns dem Haus nähern, versuche ich, nicht auf Audreys fröhliches Auto zu schauen.
Drinnen ist die Trauerfeier in vollem Gang. Berge von Essen stehen auf jeder zur Verfügung stehenden Abstellfläche und die Räume sind voll mit schwarz oder dunkelblau gekleideten Menschen, die sich leise und diskret unterhalten, als hätten sie Angst, die Tote zu wecken. Ich fühle mich, als hätte ich Watte in den Ohren: Wenn mich Leute ansprechen, muss ich sie bitten, sich noch einmal zu wiederholen.
»Was?«, frage ich nach, als Mason etwas in meine Richtung murmelt.
»Ich wollte wissen, ob ich dir etwas zu essen besorgen soll«, antwortet er und sieht mich erschrocken und besorgt zugleich an.
»Ach.«
Meine Gedanken kreisen um etwas, was ich fünf Minuten später bereits wieder vergessen habe, und als ich noch einmal zu Mason schaue, ist er nicht mehr da. Ich bin mir nicht sicher, ob ich seine Frage beantwortet habe. Vielleicht holt er etwas zu essen, vielleicht ist er aber auch einfach gegangen.
Ich bleibe an derselben Stelle stehen, bis ich mich wie gelähmt fühle. Dann gehe ich einige Schritte, nur um zu sehen, ob ich es noch kann. In dem Moment wird mir bewusst, dass Matt und ich nie mehr als einige Meter voneinander entfernt waren. Nachdem wir hier angekommen sind,
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