Die fünf Leben der Daisy West
ich meinen Namen ändere, mit einem neuen Profil beginnen muss, habe ich nicht viele virtuelle Freunde und somit ist auf meinen Seiten nicht viel los. Das letzte Mal war ich in Seattle auf Facebook und zu der Zeit hatte ich nur sechzehn Freunde, die meisten von ihnen Revive-Kids.
Deshalb bin ich überrascht, als ich, nachdem ich mein Passwort eingegeben und meine Benachrichtigungen geprüft habe, zweiunddreißig Freundschaftsanfragen vorfinde, alle von Schülern meiner Schule. Die meisten davon ohne Kommentar. Einige aber haben einen persönlichen Satz hinzugefügt, wie wundervoll Audrey gewesen sei und wie cool sie die Idee mit den Texten für Audrey fanden.
Ohne zu zögern, akzeptiere ich alle Anfragen und klicke dann zu meiner Pinnwand, um zu sehen, ob es dort etwas Neues gibt. Nicole Anderson, ehemals Nicole Young und ebenfalls Revive-Kid, lebt heute in Atlanta und hat angesichts von Audreys Tod einen Text über »Positive Energie« geschickt. Ich muss lächeln – über den Inhalt und weil Megan offensichtlich alles versucht, um mich aufzuheitern. Eine Mitschülerin aus meinem Geschichtskurs hat mir eine virtuelle Umarmung zukommen lassen. Als ich weiter hinunterscrolle, erblicke ich einen Eintrag von Matt. Mir bleibt fast das Herz stehen.
Ich vermisse dich.
Ich weiß nicht warum, aber ich schreibe nicht sofort zurück. Lieber möchte ich ihn anrufen oder ihn persönlich treffen. Ihm in die Augen sehen und wirklich Verbindung mit ihm aufnehmen.
Erst einmal beschäftige ich mich jedoch weiter mit Facebook.
Gerade sehe ich, dass Megan online ist und im nächsten Moment macht sie mir auch schon einen Freundschaftsvorschlag: Nora Emerson.
Seufzend überlege ich, wie ich mich verhalten soll. Der Abend in Seattle, als Megan und ich Nora gefunden haben, scheint so ewig lang her zu sein, auch wenn seitdem nur zwei Wochen vergangen sind. Ich war so überwältigt und erschöpft nach Audreys Tod, dass ich die Sache mit Nora vollkommen verdrängt habe. Doch ich muss mich damit auseinandersetzen. Das Bedürfnis zu wissen, was mit Nora geschehen ist – die Vergewisserung, ob sie Fall 22 ist – wird immer größer.
Ich drücke auf »Als FreundIn hinzufügen« und schreibe eine verschlüsselte persönliche Nachricht an sie. »Ich würde gern deine Geschichte hören. Ich bin wie du.« Als hätte sie vor dem Computer gewartet, akzeptiert sie die Anfrage sofort. Da ich jetzt weiß, dass sie online ist, öffne ich das Chat-Programm.
Nora, hier ist Daisy aus FH. Ruf mich an, wenn du mit mir reden willst.
Ich schreibe ihr meine Handynummer, drücke auf »Senden« und schaue dann auf die Uhr. Keine zwei Minuten vergehen, bis das Telefon klingelt.
»Hallo?«, grüße ich in den Hörer.
»Hier ist Nora«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. Zögernd fügt sie hinzu »Emerson.« Sie hört sich genauso an wie an dem Tag, als sie mir die Einladung gebracht hat, abgesehen davon, dass sie damals selbstbewusster klang.
»Nora, ich weiß Bescheid«, antworte ich. »Hier ist Daisy. Du kennst mich als Daisy Appleby und hast mich wahrscheinlich für tot gehalten, bis du mich in Omaha gesehen hast.«
»Ich habe geglaubt, ich werde verrückt!« Die Worte platzen ausihr heraus. Dann schnaubt sie verärgert. »Sie haben mir Fotos von deiner Obduktion gezeigt«
»Was haben sie getan?«, frage ich empört. Ist das Programm zu einem Ring von Betrügern geworden? »Ich habe keine Ahnung, wo die Fotos herkommen, aber sie sind gefälscht. Ich bin quicklebendig.«
»Ich wusste es«, bekennt sie. »Selbst nachdem sie mir die Bilder gezeigt hatten, wusste ich, dass du es warst, die ich gesehen habe. Du siehst genauso aus wie früher nur ... besser.«
»Danke«, sage ich leise. Für einen Moment schweigen wir beide. »Und wer hat dir die Fotos gezeigt?«, erkundige ich mich dann behutsam.
»Zwei Polizisten«, antwortet sie. »Ich habe meiner Mutter erzählt, dass ich dich gesehen habe und sie hat daraufhin die Polizei angerufen. Am nächsten Tag kamen zwei Beamte zu uns nach Hause.«
»Verstehe.« Ich weiß, dass diese »Polizisten« Agenten waren, aber Nora hält sie offenbar immer noch, auch nach ihrer Umsiedlung, für Polizisten. Glaubt sie womöglich auch, dass ihr Totalschaden wirklich ein Unfall war? War er das vielleicht tatsächlich und die Agenten, die meinetwegen hinter ihr her waren, haben nur die Gelegenheit ergriffen, um Nora gleichzeitig zu retten und zum Schweigen zu bringen?
»Aber wie gesagt, ich habe ihnen nicht
Weitere Kostenlose Bücher