Die fünf Leben der Daisy West
stimmt Megan zu. »Deshalb wussten sie auch, dass sie es doch erzählt hat.«
»Und deshalb waren sie ihr in der darauffolgenden Nacht noch auf den Fersen.«
»Wie praktisch.«
»Allzu praktisch«, murmele ich.
»Dann kommt es zu dem Unfall – entweder zufällig oder absichtlich«, fährt Megan fort und fügt damit das nächste Puzzleteil hinzu. »Wenn sich der Unfall zufällig ereignet hat, haben die Agenten die Möglichkeit beim Schopf gepackt und wenn er absichtlich herbeigeführt wurde ...«
»Ist das Programm total durchgeknallt.«
»Ja«, pflichtet Megan mir bei. »Auf jeden Fall gehen die Agenten direkt danach zu Noras Eltern, wie sie es bei uns nach dem Busunfall getan haben, und teilen ihnen mit, dass sie versuchen werden, sie zurückzuholen, sofern sie einer Umsiedelung zustimmen?«
»Die Eltern stimmen zu, beschließen aber, Nora anzulügen, was den Grund für den Umzug angeht.«
»Die Geschichte haben sie sich allerdings sicher nicht selbst ausgedacht«, fügt Megan hinzu. »Die Agenten müssen sie ihnen mitgeliefert haben.«
»Warum erzählen wir ihnen nicht einfach alles über das Programm, da sie jetzt mittendrin sind?«, schlage ich vor.
»Das ist die große Frage«, erwidert Megan. »Vielleicht hatten sie trotzdem noch Bedenken, dass Nora weiter Dinge ausplaudern könnte, und haben deshalb nicht ganz mit offenen Karten gespielt. Vielleicht lassen sie sie aber auch über das meiste im Dunkeln und zwingen sie, Nora anzulügen, damit diese erst recht im Dunkeln tappt und keinen weiteren Schaden anrichten kann.«
Für einen Moment spricht niemand von uns beiden, weil wir unsere Gedanken sammeln müssen.
»Das könnte stimmen«, sage ich. »Mir leuchtet sogar ein, warum sie wollen, dass Nora ahnungslos bleibt. Trotzdem, sie tut mir leid. Im Gegensatz zu uns hat sie kein Netzwerk.«
»Außer dich, ihre Zeugenschutz-Kollegin«, wirft Megan lachend ein.
»Sehr komisch«, entgegne ich, ohne zu lachen.
»Verrenn dich da bloß nicht in etwas«, warnt mich Megan.
»Tu ich doch gar nicht.«
»Tust du doch«, beharrt sie. »Du willst unbedingt wissen, ob es ein Unfall war oder nicht.«
»Du nicht?«
»Ganz ehrlich? Nicht wirklich. Meiner Meinung nach geht es in dem Programm ohnehin nicht ganz mit rechten Dingen zu. Killeragenten haben mir gerade noch gefehlt.«
»Was geht nicht mit rechten Dingen zu?«
»Das ist doch klar, Daisy. Dir fällt es nicht auf, weil du mehr damit lebst als wir anderen, aber sie haben eindeutig etwas zu verbergen. Zum Beispiel hat niemand von uns Gott je gesehen. Findest du nicht, dass das ein bisschen seltsam ist?«
»Wahrscheinlich«, sage ich und muss zugeben, dass ich noch nie wirklich darüber nachgedacht habe.
»Ich will damit nur sagen, dass ich keine Lust habe, irgendwelche Leichen auszugraben«, erklärt Megan. »Aber das ist wahrscheinlich mein ganz persönliches Problem.«
Beiläufig frage ich Mason bei Braten im Schinkenmantel und Kartoffelpüree mit Knoblauch, was aus Nora geworden ist. Kurz sieht er mich verständnislos an, dann fällt ihm ein, worüber ich spreche.
»Nichts«, antwortet er, legt seine Gabel ab und trinkt einen Schluck Wasser. »Wenn ich mich recht erinnere, stand in dem Bericht, dass sie die Sache nicht weiterverfolgt haben, und deshalbhaben wir es auch nicht getan. Die beiden Agenten wurden abgezogen und haben ein neues Aufgabengebiet zugeteilt bekommen.«
»Aha«, sage ich und schiebe mit der Gabel Mais auf meinem Teller herum.
»Tut mir leid, dass ich vergessen habe, dir das mitzuteilen.«
»Kein Problem«, sage ich so locker wie möglich, weiß aber, dass ich dringend eine Schaufel brauche, selbst wenn Megan keine Lust zum Graben hat.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
35
Matt kommt an einem Donnerstag wieder zur Schule.
Als er das Klassenzimmer betritt, in dem wir Englisch haben, versetzt es mir einen Stich, dass ich vorher nichts davon wusste. Offenbar wollte er nicht mit mir zusammen fahren oder sich vor dem Unterricht treffen – aber ich habe ja geahnt, dass ab jetzt alles anders sein würde.
Ich hoffe nur, dass es nicht für immer andauern wird.
Auf dem Gang schauen die Leute mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann, zwischen Matt und mir hin und her. Ich fühle mich, als hätten wir uns getrennt, auch wenn wir es offiziell nie getan haben. Doch wenn sich unsere Blicke kreuzen, sprechen wir stumm miteinander.
Ich wünschte, sie würden aufhören uns
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