Die fünf Leben der Daisy West
Gyllenhaal vor Starbucks zu sehen. Ich weine und lache zugleich, als ich an ihre Reaktion denke: Sie hatte wirklich geglaubt, er wäre es gewesen.
»Du bist total Gyll-besessen!«, rufe ich ihr zu, wo auch immer sie jetzt ist.
Und dann gehe ich duschen.
Ich laufe zur Schule, in der Hoffnung, dass die frische Luft und das Vitamin D mich noch munterer machen. Unterwegs wähle ich Megans Nummer.
»Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, sage ich.
»Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen«, erwidert sie. »Deine beste Freundin ist gerade gestorben. Ich bin beeindruckt, dass du überhaupt funktionsfähig bist.«
»Einige Tage war das anders«, gestehe ich.
»Ich weiß«, antwortet Megan leise. »Mason hat meine Mutter angerufen, um sie um Rat zu fragen.«
»Manchmal glaube ich, sie lieben sich«, sage ich lächelnd.
»Glaube ich auch.«
»Wie gut, dass wir uns noch viel mehr lieben«, fahre ich fort. »Für den Fall, dass sie es sich eines Tages eingestehen und heiraten.«
»Wir sind sowieso Schwestern«, behauptet Megan.
Einen Moment lang schweigen wir beide.
»Megs?«
»Was ist?«
»Ich fühle mich ... schuldig.«
Megan antwortet nicht, um mir die Möglichkeit zu geben weiterzureden.
»Ich habe das Gefühl, so viele Chancen bekommen zu haben, und für Audrey gab es keine einzige. Das macht mich krank.«
»Das ist das Schuldgefühl der Überlebenden«, antwortet Megan leise. »Das ist normal.«
»Ja, aber es ist mehr als das«, erwidere ich. »Ich habe das Gefühl, ich hätte mehr für sie tun müssen. Ich fühle mich schuldig, weil ich in Seattle war, als es mit Audrey bergab ging. Ich fühle mich, als hätte ich sie im Stich gelassen. Ich fühle mich schlecht, weil ich mit dir zusammen war.«
Megan schweigt so lange, dass ich schon befürchte, das Telefon habe den Geist aufgegeben.
»Ich kann nachvollziehen, warum du so denkst«, meldet sie sich schließlich wieder zu Wort.
»Kannst du das wirklich?«
»Sicher«, antwortet sie. »Aber hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Du bist nicht dafür verantwortlich, dass Audrey an Krebs erkrankt ist und du konntest sie nicht heilen. Audrey wusste, dass du sie sehr gemocht hast und ihr habt euch nicht gestritten. Niemand konnte ahnen, wann es passiert. Du kannst nichts dafür.«
Als Megan diese vier Worte sagt, ist es um mich geschehen. Erst in dem Moment wird mir bewusst, dass ich mir selbst tatsächlich und buchstäblich die Schuld gegeben habe. Sicher, klar, Audrey hatte Krebs, worüber ich keinerlei Kontrolle hatte. Dennoch habe ich irgendwie gehofft, dass meine Freundschaft ihr helfen würde, sich dagegen zu behaupten.
»Du hast recht. Ich kann nichts dafür.«
»Aber ich sage dir, wofür du etwas kannst«, sagt Megan in leicht vorwurfsvollem Tonfall.
»Ach wirklich?«, erwidere ich und bin geradezu froh, für eine Weile über etwas anderes als über den Tod nachzudenken.
»Du kannst etwas dafür, dass unser Blog aufgrund einer gewaltigen Nachrichtenlücke aus dem mittleren Westen hängt.«
»Das Problem kann ich vielleicht lösen.«
»Gut. Ich bin sehr gespannt, was Blumenmädchen zu sagen hat.«
Nach dem Gespräch mit Megan fühle ich mich wie befreit. Als ich die Schule erreiche, habe ich noch ein wenig Zeit und eine Idee. Noch vor dem Unterricht gehe ich in den Computerraum und drucke den Text zu »The Way I Am« von Eminem aus. Den Song hat Audrey immer gesungen, wenn sie Matt und mich wegen unserer Schwäche füreinander necken wollte. Ich habe aber festgestellt, dass er auch unsere Freundschaft gut beschreibt.
Unter den neugierigen Blicken einiger Schüler klebe ich den Text an Audreys Schließfach und mache mich dann, noch immer lächelnd, auf den Weg zum Englischunterricht. Matts Stuhl ist nach wie vor leer, aber ich bin optimistisch, dass er bald zurückkommen wird.
Als ich vor der Mittagspause bei den Schließfächern vorbeigehe, kleben weitere Texte an Audreys Fach. Am Ende des Tages ist die Tür vollständig mit handgeschriebenen oder ausgedruckten Songtexten zugehängt. Und als ich sie lese, verstehe ich.
Sie alle vermissen Audrey. Sie haben nicht nur so getan.
Ich bin nicht allein.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
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Gut eine Woche später poste ich als Reaktion auf Megans Grammy-Rede meine gnädigen Dankesworte für einen Oscar. Zurück in der Wirklichkeit prüfe ich meinen Facebook-Account, was ich nicht sehr häufig tue. Da ich jedes Mal, wenn
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