Die fünf Leben der Daisy West
den ich glaubte, nie wieder in meinem Leben zu sehen.
»Sydney?«
»Ja Süße«, sagt sie mit dieser Stimme, die schon immer bewirkt hat, dass ich mich sofort besser fühle. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du schwere Zeiten durchmachst.«
Ihre Worte bringen meinen gesamten Schmerz erneut an dieOberfläche. Ich beginne zu schluchzen. Sydney rückt näher an mich heran – direkt neben mich – und nimmt mich in den Arm. Sie trägt einen grauen Pullover, der durch meinen Rotz sicher ruiniert wird, doch das scheint ihr nichts auszumachen. Wir bleiben so sitzen: Sie streicht mir über das ungekämmte Haar und ich weine mich an ihrer Schulter aus, bis ich keine Tränen mehr habe.
Danach reden wir stundenlang. Ich rede und rede über Audrey – über jede Minute, an die ich mich erinnere. Auch von Matt erzähle ich viel, wenn auch nicht alles. Ich sage ihr, dass ich mich schuldig fühle, weil ich bei Megan war, als Audrey gestorben ist. Dass ich das Gefühl habe, Mason macht irgendetwas zu schaffen, was mit dem Programm zu tun hat. Dass es noch einige andere Dinge gibt, über die ich im Moment aber nicht sprechen möchte.
»Du trägst eine ungeheuere Last auf deinen Schultern«, äußert sich Sydney darauf. »Ich kann nachvollziehen, warum du Zeit für dich brauchtest.«
»Ich wünschte, Mason wäre so verständnisvoll wie du«, jammere ich.
»Ach Daisy, du darfst nicht so streng mit ihm sein«, erwidert sie. »Er selbst wusste vielleicht nicht so genau, wie er dir helfen sollte, er wusste jedoch genug, um jemanden anzurufen, der es womöglich kann. Und ich glaube, dass er besser versteht, was du durchmachst, als du denkst.«
»Vielleicht ...«, sage ich, ohne es wirklich zu glauben. Mason ist ein rationaler, kein emotionaler Mensch. »Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, wie ich ohne Audrey leben soll. Was kann ich nur tun?«
»Daisy, ich wünschte, ich könnte alle Probleme für dich lösen«, antwortet Sydney. »Mir tut es sehr weh, dich so verletzt zu sehen. Aber die Wahrheit ist, dass nur die Zeit solche Wunden heilen kann.«
Ich antworte nicht und runzele die Stirn, weil sie klingt wie eine Trauerkarte, was ich ihr dann auch sage.
»Der Ratschlag ist gut«, sagt sie. »Deshalb steht er auch auf so vielen Karten.«
Angespannt lächele ich sie an. Sie nimmt meine Hand.
»Kleine Dinge kannst du durchaus tun«, sagt sie.
»Was denn zum Beispiel?«, frage ich, gierig nach einem Rezept, um meinen Seelenschmerz zu heilen.
»Jeden Morgen, wenn du aufwachst und dir wieder einfällt, dass Audrey nicht mehr da ist, kannst du zum Beispiel, anstatt darüber zu grübeln, was sie nie erleben wird, an etwas Tolles denken, das sie getan hat. Gedenke ihrer für einen Moment und schau dann nach vorn.«
»Wenn das nur so leicht wäre ...«, antworte ich skeptisch. »Was noch?«
Sydney zuckt mit den Schultern. »Geh duschen. Zur Schule. Sei aufmerksam. Tu Dinge, die du immer gern getan hast, und irgendwann werden sie dir wieder Spaß machen. Ruf Megan an und sprich mit ihr darüber, wie du dich fühlst. Versuch, zu Matt wieder eine Verbindung aufzubauen, wenn er bereit dafür ist.«
Als ich nicht antworte, fährt sie fort: »Leider gibt es keine Formel, um die Trauer von heute auf morgen verschwinden zu lassen. Im Gegenteil, du wirst sie für den Rest des Lebens in dir tragen. Die Frage ist nur, wie du damit umgehst. Du kannst an dem Schmerz über den Verlust von Audrey kaputtgehen oder du kannst für die Zeit dankbar sein, die du mit ihr hattest.«
»Du klingst wie sie«, sage ich.
»Sie muss ein cleveres Mädchen gewesen sein«, sagt Sydney lächelnd und entlockt mir damit, zum ersten Mal seit Tagen, ein kurzes Lachen.
»Wirst du Schwierigkeiten bekommen, weil du hier bist?«, frage ich.
»Was Gott nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, erwidert sie. »Mein Mädchen brauchte mich. Auch wenn es dir vielleicht nicht bewusst ist, aber ich bin immer für dich da, Daisy.«
Sydney geht erst nach dem Abendessen und es kommt mir vor, als hätte sie einen Teil des Grauens mitgenommen. Weil ich offen über Audrey gesprochen habe, fühle ich mich auf einmal fast wie ein Luftballon, der zum Himmel aufsteigt: ein wenig leichter. Ein wenig besser.
Um neun Uhr gehe ich ins Bett und schlafe wie ein Baby. Als ich am Morgen aufwache, habe ich sofort wieder Audreys Beerdigung im Kopf. Ich schiebe den Gedanken bewusst fort und rufe mir den Tag ins Gedächtnis, als wir zusammen in der Stadt waren und sie glaubte, Jake
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